04.10.2011 Zivilrecht

OGH: Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht (iZm Schadensanlagefällen)

Bei Vorhandensein einer krankhaften Anlage, die denselben Schaden zu einem späteren Zeitpunkt herbeigeführt hätte, kann sich der Schädiger grundsätzlich auf überholende Kausalität berufen; die Behauptungs- und Beweislast für die Voraussetzungen der überholenden Kausalität trägt der Schädiger


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Arzthaftung, Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht, Schadensanlagefälle, überholende Kausalität
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB

GZ 6 Ob 168/10i, 18.07.2011

 

OGH: Ein dem Spitalsarzt anzulastendes Fehlverhalten, für das der Krankenhausträger dem Patienten als Partner des abgeschlossenen Behandlungsvertrags zu haften hat (§ 1313a ABGB), liegt dann vor, wenn der Arzt nicht nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung vorgegangen ist oder die übliche Sorgfalt eines ordentlichen pflichtgetreuen Durchschnittsarztes in der konkreten Situation vernachlässigt hat.

 

Der mit dem Arzt oder dem Krankenhausträger abgeschlossene Behandlungsvertrag umfasst auch die Pflicht, den Patienten über Art und Schwere sowie über die möglichen Gefahren und schädlichen Folgen der Behandlung oder ihrer Unterlassung zu unterrichten. Grundsätzlich ist nämlich jede ärztliche Heilbehandlung, die mit einer Verletzung der persönlichen Integrität verbunden ist, als Körperverletzung und damit als Verletzung eines absolut geschützten Rechtsguts zu werten und somit rechtswidrig, weshalb erst die Zustimmung des Patienten den Eingriff zu rechtfertigen vermag. Die Zustimmung setzt aber zu ihrer Rechtswirksamkeit eine vorangegangene entsprechende Aufklärung voraus, weshalb bei einem Unterbleiben der Aufklärung der Arzt bzw der Krankenhausträger auch bei kunstgerechter Operation für dadurch entstandene Schäden zu haften hat.

 

Das in den Schadensanlagefällen sich stellende Problem der überholenden (= hypothetischen) Kausalität spielt im Anlassfall keine Rolle. Bei Vorhandensein einer krankhaften Anlage, die denselben Schaden zu einem späteren Zeitpunkt herbeigeführt hätte, kann sich der Schädiger grundsätzlich auf überholende Kausalität berufen: Seine Ersatzpflicht beschränkt sich auf jene Nachteile, die durch die zeitliche Vorverlagerung des Schadens entstanden sind. Für die Berücksichtigung der überholenden Kausalität muss feststehen, dass der gleiche Erfolg auch ohne das (reale) schädigende Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten wäre; es genügt nicht, dass der Erfolg „irgendwann“ eingetreten wäre. Der maßgebende Zeitpunkt muss mit einiger Sicherheit bestimmt werden können. Es genügt nicht, dass der Schaden irgendwann eingetreten wäre. Die Behauptungs- und Beweislast für die Voraussetzungen der überholenden Kausalität trägt der Schädiger.

 

Dem Primararzt der beklagten Partei, der die Klägerin operierte, ist die Fortsetzung des Eingriffs nach dem Öffnen des Mittelohrraums als Behandlungsfehler vorzuwerfen. Nach den Feststellungen des Erstgerichts hat er nur in Bezug auf die technische Durchführung des Eingriffs regelgerecht gehandelt. Aus der Feststellung des Erstgerichts, dass die Operation aus medizinischer Sicht aufgrund der sich nach dem Öffnen zeigenden Situation nicht hätte fortgesetzt werden dürfen, weil dem Operateur klar sein musste, dass ein deutlich erhöhtes Risiko einer Ertaubung bestand und der zu erwartende Hörgewinn mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer sein werde, als im Aufklärungsbogen angegeben, folgt, dass der Operateur in der konkreten Situation die übliche, von einem Operateur zu verlangende Sorgfalt dadurch vernachlässigte, dass er den Eingriff nicht abbrach. Ob es im Ermessen des Operateurs steht, eine Operation fortzusetzen oder abzubrechen, wenn während der Operation unerwartete Verhältnisse vorgefunden werden, ist eine Rechtsfrage.