11.10.2011 Zivilrecht

OGH: Haftung aus Verfolgungsjagden

Nur wenn das Interesse am Unterbleiben der sich aus dem Nacheilen ergebenden Gefahren höher wäre, als das Interesse am Erreichen des Zwecks der Verfolgung, wäre eine Rechtfertigung der Verfolgung zu verneinen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Verfolgung, Polizist, Rechtfertigung, Verfolgungsexzess, Mitverschulden
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB

GZ 10 Ob 55/11b, 30.08.2011

 

OGH: Die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Erstbeklagten gründet sich darauf, dass er durch seine von der Rechtsordnung verpönte Flucht für den Kläger (Polizeibeamter) eine eminente Gefahrenlage verursacht hat. Schon nach dem von der Rsp entwickelten Grundsatz, dass jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen hat, um eine Schädigung anderer nach Tunlichkeit abzuwenden, wäre er verpflichtet gewesen, ein Verhalten zu setzen, durch das diese Gefahrenlage wieder beseitigt wird. Dieses Verhalten konnte nur in der alsbaldigen Aufgabe seines Fluchtversuchs bestehen, wozu der Erstbeklagte jederzeit in der Lage gewesen wäre. Solange er aber die durch seine Flucht geschaffene Gefahrenlage für den Kläger als seinen Verfolger aufrechterhielt, verletzte er diese auch dem Schutz des Verfolgers dienende Rechtspflicht. Es ist daher sachlich gerechtfertigt, wenn er dem Grund nach für den vom Kläger (der im Zuge der Verfolgung von einer Stützmauer abstürzte und sich dabei verletzte) geltend gemachten Schaden zu haften hat. Es hat sich gerade das Risiko realisiert, das der Kläger durch seine Flucht herbeigeführt hat.

 

Der Revisionswerber nimmt weiterhin den Standpunkt ein, die Verfolgung sei nicht gerechtfertigt, da dem Kläger nur bekannt gewesen sei, dass der Erstbeklagte eine Verwaltungsübertretung nach § 97 Abs 5 StVO begangen habe, indem er der Aufforderung eines Polizeibeamten zum Anhalten nicht Folge leistete. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Kläger schon aufgrund des auffälligen Fahrverhaltens des Erstbeklagten vor dem ersten Versuch der Anhaltung hinreichende Gründe für die Annahme einer Alkoholisierung haben konnte; dieser Verdacht stellte sich in der Folge auch als richtig heraus. Insbesondere wegen der Wiederholungsgefahr, die bei alkoholisiertem Lenken von Kraftfahrzeugen gegeben ist, liegt die Verfolgung eines alkoholisierten Kraftfahrzeuglenkers, der nach einer Verfolgungsjagd mit dem Streifenwagen letztlich auch noch versucht, sich seiner Anhaltung durch Davonlaufen zu entziehen, im öffentlichen Interesse und rechtfertigt die damit verbundenen Gefahren. Nur wenn das Interesse am Unterbleiben der sich aus dem Nacheilen ergebenden Gefahren höher wäre, als das Interesse am Erreichen des Zwecks der Verfolgung, wäre eine Rechtfertigung der Verfolgung zu verneinen. Die von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen tragen demnach die Beurteilung, dem Erstbeklagten seien die verfolgungsbedingten Verletzungen des Klägers objektiv zuzurechnen.

 

Die subjektive Seite der Haftung, nämlich der Vorwurf, die Körperverletzung des Klägers schuldhaft herbeigeführt zu haben, setzt voraus, dass der Erstbeklagte damit rechnen musste, verfolgt zu werden und voraussehen konnte, dass der Kläger dabei möglicherweise zu Schaden kommen werde. Auch diese Voraussetzungen sind erfüllt, hat doch der Erstbeklagte durch sein Weglaufen nach dem Verlassen des PKWs seine Verfolgung geradezu herausgefordert. Ihm musste bewusst sein, dass er eine erhöhte Verletzungsgefahr für den Kläger schuf, indem er - um dem Scheinwerferkegel der angehaltenen Fahrzeuge zu entkommen - in einen dunklen Bereich flüchtete, ohne zu wissen, ob und welche Gefahren sich dort auftun könnten. Er hat demnach für die nicht atypischen nachteiligen Auswirkungen seines rechtswidrig schuldhaften Verhaltens einzustehen. Nicht erforderlich ist, dass er den beim Kläger tatsächlich eingetretenen Verletzungserfolg voraussehen konnte oder vorausgesehen hat.

 

Auch bei „Verfolgungsschäden“ ist eine Verschuldensteilung zwischen dem flüchtenden Rechtsbrecher und dem ihn verfolgenden Sicherheitswachebeamten denkbar. Bestehen und Ausmaß des Mitverschuldens eines Geschädigten iSd Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten ist aber stets nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, weshalb die Beurteilung dieser Frage regelmäßig keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO aufwirft. Auch der Hinweis darauf, dass ein völlig gleichgelagerter Sachverhalt vom OGH noch nicht entschieden wurde, begründet keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist auch der vom Erstbeklagten eingewendete „Verfolgungsexzess“ zu verneinen: Der Kläger wusste zwar zum Zeitpunkt seiner Nachteile noch nichts von der Widerstandshandlung (§ 269 StGB) des Erstbeklagten, doch ist die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts vertretbar, dass auch der dringende Alkoholisierungsverdacht (§ 5 StVO) eine Verfolgung zu Fuß jedenfalls angemessen erscheinen ließ.

 

Die Auffassung des Berufungsgerichts, infolge der gebotenen Eile sei dem Kläger nicht als Sorgfaltswidrigkeit zurechenbar, dass er bei der Verfolgung nicht die - zuvor von seinem Kollegen benutzte und daher nicht griffbereit im Streifenwagen liegende - Stabtaschenlampe verwendet habe, bildet ebenfalls keine vom OGH im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung; ebenso nicht die Ansicht des Berufungsgerichts, infolge der gegebenen Umstände - insbesondere infolge des schlagartigen Wechsels von Hell und Dunkel - sei dem Klägers auch sonst keine Verletzung der Sorgfaltspflicht in eigenen Belangen vorwerfbar.