EuGH: Rs C-327/10, vom 17. November 2011 – Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher gem Art 16 Abs 2 EuGVVO bei unbekanntem Wohnsitz des Verbrauchers?
Ist der aktuelle Wohnsitz eines Verbrauchers unbekannt, können die Gerichte des letzten bekannten Wohnsitzes zuständig sein, über eine Klage gegen ihn zu entscheiden; die Unmöglichkeit, den aktuellen Wohnsitz des Beklagten ausfindig zu machen, darf dem Kläger nicht das Recht auf ein gerichtliches Verfahren nehmen
Urteil in der Rechtssache C-327/10, 17. November 2011
COJC
EuGH: Zunächst ist festzustellen, dass die EuGVVO nicht die Vereinheitlichung aller Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat, sondern die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten für Zivil- und Handelssachen im Verhältnis zwischen diesen Staaten und die Erleichterung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen.
Da es in der EuGVVO keine Vorschrift gibt, die die gerichtliche Zuständigkeit in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der Wohnsitz des Beklagten nicht bekannt ist, ausdrücklich regelt, ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls aufgrund welcher Bestimmung diese Verordnung trotzdem Anwendung finden kann und ob es möglich ist, aus der Verordnung ein Kriterium abzuleiten, das die Begründung einer gerichtlichen Zuständigkeit ermöglicht.
Da es sich im Ausgangsverfahren um eine Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher handelt, ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass nach Art 16 Abs 2 EuGVVO eine solche Klage nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden kann, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.
Wenn daher ein nationales Gericht über eine Klage gegen einen Verbraucher zu erkennen hat, hat es zunächst zu prüfen, ob der Beklagte im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des Gerichts einen Wohnsitz hat, indem es gem Art 59 Abs 1 EuGVVO sein eigenes Recht anwendet.
Kommt dieses Gericht wie im Ausgangsverfahren zu dem Ergebnis, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats keinen Wohnsitz hat, hat es sodann zu prüfen, ob er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat. Dazu wendet es nach Art 59 Abs 2 das Recht dieses anderen Mitgliedstaats an.
Gelingt es dem nationalen Gericht auch dann nicht, den Wohnsitz des Verbrauchers festzustellen, und verfügt es auch nicht über beweiskräftige Indizien, die den Schluss zulassen, dass der Beklagte seinen Wohnsitz tatsächlich außerhalb des Unionsgebiets hat – ein Fall, in dem Art 4 EuGVVO zur Anwendung käme –, ist schließlich zu prüfen, ob Art 16 Abs 2 der Verordnung dahin ausgelegt werden kann, dass in einem Fall wie diesem der in dieser Bestimmung aufgestellte Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der Wohnsitz des Verbrauchers befindet, auch für den letzten bekannten Wohnsitz des Verbrauchers gilt:
Es ist festzustellen, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der ein Verbraucher, der Partei eines langfristigen Hypothekendarlehensvertrags ist, mit dem die Verpflichtung verbunden ist, dem Vertragspartner jede Adressänderung mitzuteilen, seinen Wohnsitz aufgibt, bevor gegen ihn eine Klage wegen Verletzung seiner vertraglichen Pflichten erhoben wird, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der letzte bekannte Wohnsitz des Verbrauchers befindet, nach Art 16 Abs 2 EuGVVO zuständig sind, über diese Klage zu befinden, wenn es ihnen nicht gelingt, in Anwendung von Art 59 EuGVVO den aktuellen Wohnsitz des Beklagten festzustellen, und sie auch nicht über beweiskräftige Indizien verfügen, die den Schluss zulassen, dass der Beklagte seinen Wohnsitz tatsächlich außerhalb des Unionsgebiets hat.