OGH: Begehrungsneurose iZm Versehrtenrente gem § 203 ASVG und Arbeitsunfall iSd § 175 ASVG – Kausalzusammenhang zwischen Unfall und dissoziativer Störung (funktionelle Lähmung, Gedächtnisstörung)
Nur dann, wenn ein Verunglückter wirklich nicht befähigt ist, seiner psychischen Veranlagung entgegen zu wirken, wird der Unfall als wesentliche Ursache der psychogenen Minderung der Erwerbsfähigkeit angesehen werden müssen, bzw wenn diese ohne den Unfall voraussichtlich nicht oder doch nicht in absehbarer Zeit eingetreten wäre
§ 203 ASVG, § 183 ASVG, § 175 ASVG
GZ 10 ObS 78/11k, 06.12.2011
OGH: Für den Unfallbegriff nach § 175 Abs 1 ASVG nicht relevant ist, ob die Körperschädigung durch eine physische oder eine psychische Wirkung (zB Nervenschock) hervorgerufen wurde. Auch Vorgänge im psychischen Bereich können Unfallursache und Unfallfolge sein.
Ganz allgemein können psychische Folgen eines Arbeitsunfalls grundsätzlich als „Erstschaden“, va in Form von äußeren psychischen Einwirkungen auftreten, aber auch in Form von „Sekundärschäden“ etwa infolge eines körperlich-organischen Erstschadens zB als depressive Reaktion auf schwere, andauernd schmerzhafte Verletzungsfolgen.
Zu Beeinträchtigungen, die auf einer durch die Körperverletzung ausgelösten seelischen Störung des Betroffenen beruhen und von der Begehrensvorstellung nach einer Lebenssicherung oder der Ausnutzung einer vermeintlichen Rechtsposition geprägt sind („Begehrungsneurose“, „Rentenneurose“) vertrat der OGH zum Allgemeinen Schadenersatzrecht in der Entscheidung 2 Ob 702/50, SZ 24/113, unter Hinweis auf die deutsche Rsp die Ansicht, ein Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Begehrungsneurose sei ausschließlich dann anzunehmen, wenn der Verletzte sich der seinen Wunschtendenzen zu Grunde liegenden Krankheitserscheinungen nicht bewusst ist oder infolge besonderer Veranlagung außer Stande sieht, diesen Wunschtendenzen zu begegnen. Für den Bereich der privaten Unfallversicherung schloss der deutsche BGH nach der Adäquanztheorie eine Schadenersatzpflicht für Gesundheitsstörungen psychoneurotischen Ursprungs nicht aus, verneinte aber einen Schadenersatzanspruch für diese Krankheitserscheinungen dann, wenn sie durch einen dem Geschädigten zumutbaren Willensakt hätten überwunden werden können.
Dieselbe Rechtsansicht wurde für den Bereich der (österreichischen) gesetzlichen Unfallversicherung vom OLG Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in den Entscheidungen SSV 17/82 und SSV 1/229 vertreten. Es wurde ausgesprochen, dass bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs psychogener Beschwerden mit einem Arbeitsunfall ein strenger Maßstab anzuwenden sei. Psychogene Überlagerungen oder Aggravationstendenzen könnten nur dann eine Minderung der Erwerbsfähigkeit begründen, wenn sie einen nicht mehr beherrschbaren Ausfluss eines psychischen Krankheitszustands darstellen (SSV 17/82). Nur dann, wenn ein Verunglückter wirklich nicht befähigt sei, seiner psychischen Veranlagung entgegen zu wirken, werde der Unfall als wesentliche Ursache der psychogenen Minderung der Erwerbsfähigkeit angesehen werden müssen, bzw wenn diese ohne den Unfall voraussichtlich nicht oder doch nicht in absehbarer Zeit eingetreten wäre (SSV 1/229).
Nach der Rsp des deutschen Bundessozialgerichts ist ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang jedenfalls dann zu verneinen, wenn die psychische Reaktion wesentlich die Folge wunschbedingter Vorstellungen ist, die zB mit der Tatsache des Versichertseins oder mit persönlichen Lebenskonflikten in Zusammenhang stehen.
Festzuhalten ist, dass die noch in der Entscheidung des OGH 2 Ob 702/50, SZ 24/113, verwendeten Begriffe „Begehrungs- und Renten-neurose bzw Rentenhysterie“ heute überholt sind. Sie entsprechen nicht mehr den wissenschaftlich anerkannten Diagnosestandards nach ICD-10 bzw DSM IV und sollen daher für sozialmedizinische Fragestellungen keine Anwendung finden.
Es bedarf zunächst ergänzender Feststellungen, aus denen sich in eindeutiger Weise ergibt, ob die beim Kläger aufgetretene dissoziative Störung (funktionelle Lähmung, Gedächtnisstörung) als psychische Reaktion wesentlich die Folge des Arbeitsunfalls oder aber wesentlich die Folge wunschbedingter Vorstellungen ist, die mit der Tatsache des Versichertseins oder mit persönlichen Lebenskonflikten im Zusammenhang stehen. In letzterem Fall wäre ein rechtlich relevanter Zusammenhang zum Arbeitsunfall zu verneinen. Die bisher zur Ursache der Störungen getroffene Feststellungen, „das Rentenverfahren sei ursächlich mit der dissoziativen Störung in Verbindung zu bringen“ und „die Wahrscheinlichkeit sei sehr hoch, dass die Störung nicht auf ein Kindheitstrauma oder andere Ursachen wie zB Partnerkonflikte zurückzuführen sei“ bedarf daher einer Präzisierung im vorgenannten Sinn. Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang könnte dann sein, ob auch der Verlauf der dissoziativen Störung noch - rechtlich wesentlich - auf die ursprüngliche Reaktion zurückzuführen ist oder Begehrensvorstellungen oder sonstige aus der Psyche des Klägers heraus wirkende Kräfte so sehr in den Vordergrund getreten sind, dass sie für deren weiteren Verlauf die rechtlich allein wesentliche Ursache sind.
Gegebenenfalls wird im fortzusetzenden Verfahren auch festzustellen sein, ob der Kläger in der Lage ist, seine Begehrenshaltung und deren Auswirkungen erfolgreich zu bekämpfen. Dazu steht bisher nur fest, der Kläger versuche „quasi über den Weg körperlicher und auch psychischer Beschwerden indirekt und unbewusst seine Rechtsmeinung durchzusetzen“. Im Sinn des von der Rsp geforderten strengen Maßstabs bedarf es aber eindeutiger Feststellungen dazu, ob der Kläger derzeit imstande ist, seine psychische Störung mittels einer ihm zumutbaren Willensanstrengung zu überwinden und die Kraft aufzubringen, sich wieder als gesund zu betrachten und sich in das Erwerbsleben einzufügen; weiters dazu, ob er zu Beginn des Zeitraums seiner Wunschvorstellungen dazu in der Lage gewesen war.
Es entspricht stRsp, dass eine krankhafte Veranlagung alleinige oder überragende Ursache dann ist, wenn sie so leicht ansprechbar war, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Ein anlagebedingt schon durch alltäglich vorkommende Ereignisse leicht auslösbares Leiden ist nicht vom Unfallversicherungsschutz umfasst.