OGH: Anwendbarkeit von Art 6 EMRK im Provisorialverfahren?
Im Regelfall und jedenfalls immer dann, wenn sich ein Gericht für die Zweiseitigkeit des Sicherungsverfahrens (durch Einräumung einer schriftlichen Äußerungsmöglichkeit an die Gegenseite oder Anberaumung einer mündlichen Verhandlung) entschieden hat, sind nunmehr die Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK auch im Provisorialverfahren voll anwendbar; beabsichtigt das Rekursgericht in einem zweiseitig geführten Sicherungsverfahren, seine Entscheidung auf Beweismittel zu stützen, zu denen die gegnerische Partei in erster Instanz nicht Stellung nehmen konnte, muss es der gegnerischen Partei vor seiner Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung geben
§ 389 EO, Art 6 EMRK
GZ 17 Ob 11/10g, 05.10.2010
Die Klägerin macht geltend, die drastische Erhöhung der Sicherheitsleistung durch das Rekursgericht beruhe ausschließlich auf einem von der Beklagten vorgelegten Privatgutachten, dessen kritikwürdigen Ausführungen das Rekursgericht mit geringen Einschränkungen gefolgt sei. Der Klägerin sei in erster Instanz keine Gelegenheit geboten worden, sich zu diesem Gutachten zu äußern oder ihm sachverständige Argumente entgegenzuhalten; die erstmals in der Rekursbeantwortung erfolgte inhaltliche Kritik sei unter Hinweis auf das Neuerungsverbot unbeachtlich geblieben. Das Rekursgericht habe damit gegen das Prinzip der Waffengleichheit verstoßen.
OGH: Mit der Entscheidung vom 15. 10. 2009, Micallef gegen Malta, Nr 17056/06, änderte der EGMR seine bisherige Rsp. Danach ist Art 6 EMRK unter bestimmten Voraussetzungen auch in einem Sicherungsverfahren zu beachten. Diese Voraussetzungen sind: Das Verfahren muss zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen (civil rights or obligations) betreffen, und die Sicherungsmaßnahme muss geeignet sein, den zivilrechtlichen Anspruch oder die Verpflichtung zu bestimmen (can be considered effectively to determine the civil right or obligation at stake). Der EGMR gesteht zu, dass in außergewöhnlichen Fällen - wenn zB die Wirksamkeit der Maßnahme davon abhängt, dass rasch entschieden wird - nicht immer alle Garantien des Art 6 EMRK erfüllt werden können. In solchen Fällen kann die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts durch andere prozessuale Garantien sichergestellt werden, soweit dies mit der Natur und dem Zweck des betreffenden Sicherungsverfahrens vereinbar ist.
Nach dieser Entscheidung wird zwar in dringenden Fällen weiterhin die einseitige Erlassung einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des Gegners möglich sein, wie dies auch auf internationaler Ebene (vgl etwa Art 50 TRIPS-Abkommen und Art 9 Abs 4 RL 2004/48/EG) vorgezeichnet ist, weil ja der nachfolgend mögliche Widerspruch das rechtliche Gehör sicherstellt. Im Regelfall und jedenfalls immer dann, wenn sich ein Gericht für die Zweiseitigkeit des Sicherungsverfahrens (durch Einräumung einer schriftlichen Äußerungsmöglichkeit an die Gegenseite oder Anberaumung einer mündlichen Verhandlung) entschieden hat, sind aber nunmehr die Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK auch im Provisorialverfahren voll anwendbar.
Mit Entscheidungen über einen Antrag auf nachträgliche Erhöhung einer Kaution wird mittelbar auch über das weitere Schicksal der einstweiligen Verfügung entschieden. Bewirkt die durch Kaution gesicherte einstweilige Verfügung ein vorgreifendes Unterlassungsgebot (hier: Vertriebsverbot), das - wenn auch nur für eine bestimmte Zeit - ein Verhalten verbietet, sind auch Entscheidungen über einen Antrag auf nachträgliche Erhöhung der Kaution solche über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen iSd Art 6 Abs 1 EMRK.
Zur Waffengleichheit und damit zu den Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK gehört die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs.
Das rechtliche Gehör ist gewahrt, wenn den Parteien Gelegenheit gegeben wird, ihren Standpunkt darzulegen, und wenn sie sich zu allen Tatsachen und Beweisergebnissen äußern können, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen.
Die Beurteilung der Fairness eines Verfahrens hat nach objektiven Gesichtspunkten zu erfolgen und das gesamte Verfahren zu erfassen. Das rechtliche Gehör wird deshalb nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gericht hat daher den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekannt zu geben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen. Dies gilt schon nach bisheriger Rsp auch im Exekutionsverfahren, nach der zuvor dargestellten Judikaturänderung des EGMR auch im zweiseitigen Sicherungsverfahren einschließlich des Verfahrens über die Höhe der Kaution.
Im Anlassfall hat das Erstgericht der Klägerin ermöglicht, sich zum Antrag der Beklagten auf Erhöhung der Sicherheitsleistung zu äußern. Im dadurch zweiseitig gewordenen Verfahren waren den Parteien deshalb - wie zuvor aufgezeigt - die Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK zu gewährleisten. Dies hätte vom Rekursgericht verlangt, die in der Rekursbeantwortung enthaltene Äußerung der Klägerin zu den von der Beklagten mit der Gegenäußerung ON 76 vorgelegten Beweismitteln zu beachten, nachdem es beabsichtigte, seine abändernde Entscheidung darauf zu stützen.