OGH: Gemeinschaftsgeschmacksmuster - Eigenart iSd Art 6 GGV und Schutzumfang nach Art 10 GGV
Ein hohes Maß an Eigenart gibt Raum für einen großen Schutzumfang; umgekehrt führt geringe Eigenart auch zu einem kleinen Schutzumfang; maßgeblich ist die Würdigung des Gesamteindrucks unter dem Blickwinkel, ob sich bei einer Gegenüberstellung zweier Formgebungen insgesamt der Eindruck einer Übereinstimmung ergibt
Art 6 GGV, Art 10 GGV
GZ 17 Ob 4/10b, 31.08.2010
OGH: Bei der Beurteilung der Eigenart von Geschmacksmustern kommt es nicht auf eine vollständige Übereinstimmung der Merkmale des Gemeinschaftsgeschmacksmusters und jener vorbekannter Geschmacksmuster an. Entscheidend sind nicht die Merkmale im Einzelnen, sondern der jeweilige Gesamteindruck der einander gegenüberzustellenden und auf ihre Unterschiede zu prüfenden Geschmacksmuster. Der Gesamteindruck kann durch prägende Merkmale bestimmt sein. Zur Ermittlung des Gesamteindrucks sind daher die einzelnen Merkmale des Geschmacksmusters nach ihrem Beitrag zum Gesamteindruck zu bewerten und zu gewichten; der so gewonnene Gesamteindruck ist mit jenem eines vorbekannten Geschmacksmusters zu vergleichen. Ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist jedenfalls dann eigenartig, wenn keines der vorbekannten Geschmacksmuster alle prägenden Merkmale aufweist oder wenn ein vorbekanntes Geschmacksmuster zwar prägende Merkmale zeigt, das Gemeinschaftsgeschmacksmuster diese Merkmale aber nicht besitzt. Tragen alle Merkmale im gleichen Maß zum Gesamteindruck bei, ist die Eigenart zu bejahen, wenn sich das Gemeinschaftsgeschmacksmuster und das vorbekannte Geschmacksmuster in mindestens einem Merkmal voneinander unterscheiden.
Der Umfang des Schutzes aus dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster erstreckt sich auf jedes Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt (Art 10 Abs 1 GGV). Diese Definition folgt im Wortlaut spiegelbildlich der Definition der Eigenart. Die Frage der Schutzfähigkeit und die Verletzungsfrage sind somit nach denselben Prüfungskriterien zu beurteilen. Die Verwendung der gleichen Terminologie für Schutzumfang und Eigenart führt zu gleichen Beurteilungsmaßstäben: Ein hohes Maß an Eigenart gibt Raum für einen großen Schutzumfang; umgekehrt führt geringe Eigenart auch zu einem kleinen Schutzumfang. Ist der informierte Benutzer des geschützten Gemeinschaftsgeschmacksmusters bereit, trotz geringer Unterschiede zwischen vorbekannten Formen und Gemeinschaftsgeschmacksmustern die Eigenart zu bejahen, muss er gleichermaßen im Verletzungsstreit bei derartigen Unterschieden zwischen dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster und der angegriffenen Ausführungsform die Verletzung verneinen. Es kommt nicht auf einen mosaikartig aufgespaltenen Vergleich von Einzelheiten an; maßgeblich ist vielmehr die Würdigung des Gesamteindrucks unter dem Blickwinkel, ob sich bei einer Gegenüberstellung zweier Formgebungen insgesamt der Eindruck einer Übereinstimmung ergibt. Ob ein informierter Benutzer bei einem Vergleich der geschützten Gemeinschaftsgeschmacksmuster mit den behaupteten Eingriffsgegenständen einen unterschiedlichen Gesamteindruck gewinnt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.
Auch die Farbe kann eines der Merkmale eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters sein, das den Gesamteindruck prägt. Ob das der Fall ist, entscheidet der Anmelder bei der Anmeldung. Reicht er die Wiedergabe in Farbe ein, bildet die Farbe einen Teil der Erscheinungsform des Erzeugnisses. Das Merkmal der Farbe kann jedoch nur dann herangezogen werden, wenn die Wiedergabe als farbige Wiedergabe erkennbar ist. Erscheinungsmerkmale, die in der Wiedergabe nicht zweifelsfrei erkennbar sind, können zur Abgrenzung nicht herangezogen werden. Erfolgt die Wiedergabe - wie hier - in Schwarz-Weiß, so kommt es auf die Farbgestaltung nicht an. Denn aufgrund der Schwarz-Weiß-Darstellung des Musters in der Anmeldung ist eine besondere Farbgestaltung gerade nicht Gegenstand des Gemeinschaftsgeschmacksschutzes.
Ungeachtet der Schwarz-Weiß-Darstellung bzw Abbildung in verschiedenen Graustufen lassen zwei der klägerischen Gemeinschaftsgeschmacksmuster eindeutig einen klaren und durchsichtigen Werkstoff erkennen, während bei den anderen vier Gemeinschaftsgeschmacksmustern eindeutig ein bloß durchscheinender Werkstoff erkennbar ist. Diese Werkstoffart bildet zweifellos ein prägendes Gestaltungsmerkmal. Aufgrund der verallgemeinernden Darstellung in Schwarz-Weiß bzw in Graustufen umfassen die vier zuletzt genannten Gemeinschaftsgeschmacksmuster der Klägerin zwar alle Werkstoff- und Farbgestaltungen, welche einen gleichartigen Durchscheineffekt bewirken, nicht aber auch klare und durchsichtige Werkstoffe.