29.07.2010 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Zur Frage, ob das aufgetragene Lenken des eigenen Kfz zum Einsatzort außerhalb der Normalarbeitszeit der Überstundenzuschlagspflicht unterliegt

Reisetätigkeiten von Dienstnehmern im selbst gelenkten Privatfahrzeug (oder im Hilfszug), die als Einsatzkräfte aus der Rufbereitschaft zur Störungsbehebung gerufen werden, sind der Vollarbeitszeit zuzurechnen; für solche Reisezeiten außerhalb der Normalarbeitszeit gebührt den Dienstnehmern daher der Überstundenzuschlag


Schlagworte: Arbeitszeitrecht, Überstundenvergütung, Reisezeit, Rufbereitschaft, Hilfseinsatz im Störfall, eigener Kfz, Hilfszug
Gesetze:

§ 10 AZG, § 20b AZG

GZ 9 ObA 34/10f, 26.05.2010

Strittig ist, ob nach dem Abruf eines Dienstnehmers aus der Rufbereitschaft für die außerhalb der Normalarbeitszeit gelegene Reisezeit mit einem selbst gelenkten Privatfahrzeug (oder im Hilfszug) zum Einsatzort ein Überstundenzuschlag nach § 10 AZG gebührt.

OGH: § 10 AZG normiert den Anspruch auf Zahlung des Überstundenzuschlags. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts gilt diese Bestimmung grundsätzlich für alle Arbeitszeiten außerhalb der Normalarbeitszeit. § 10 AZG wird von der Rsp dabei als unabdingbare Mindestnorm betrachtet; der Zuschlag kann daher grundsätzlich weder ausgeschlossen noch eingeschränkt werden. Durch das Zuschlagssystem soll die Mehrbelastung des Dienstnehmers entsprechend abgegolten und der Dienstgeber gleichzeitig angehalten werden, Überstunden nur in begründeten Fällen anzuordnen. Unter Bedachtnahme auf diesen Gesetzeszweck sind Umgehungen des Zuschlagssystems im Allgemeinen nicht zuzulassen.

In der Rsp und Literatur ist aber anerkannt, dass für Leistungen des Dienstnehmers, bei denen die Intensität seiner Inanspruchnahme geringer ist als bei der eigentlichen Arbeitsleistung, kollektivvertraglich oder einzelvertraglich ein geringeres Entgelt vereinbart werden kann. Dies gilt jedenfalls für herkömmliche (aufgetragene) Dienstreisen etwa mit einem öffentlichen Verkehrsmittel.

Nach der Entscheidung 9 ObA 182/93 kann auch für das (angeordnete) selbständige Lenken eines Privatfahrzeugs ein geringeres Entgelt vereinbart werden, sofern die Pkw-Fahrt nicht zur Vollarbeitszeit zählt, etwa weil sie nicht zum ständigen Inhalt der Arbeitstätigkeit zählt oder mit der eigentlichen Dienstleistung nicht gleichzusetzen ist. Aufgrund der Einführung des § 20b AZG könnte fraglich sein, ob diese Rsp aufrechterhalten werden kann. Mit dieser Bestimmung wird klargestellt, dass auch die echte bzw passive Reisezeit (ohne Arbeitsleistung) zur Arbeitszeit zählt. Gleichzeitig wird klargestellt, dass das Lenken eines Kfz, soweit dies auf Anordnung des Dienstgebers erfolgt, als Arbeitsleistung anzusehen ist. Auch wenn das angeordnete Lenken eines Privatfahrzeugs demnach nicht zur echten Reisezeit iSd § 20b AZG gehört, ist damit noch nicht gesagt, dass diese Tätigkeit notwendigerweise zur Vollarbeitszeit gehört und die Vereinbarung eines geringeren Entgelts nicht zulässig wäre. Bezahlungsaspekte werden in § 20b AZG nämlich weder angesprochen noch geregelt.

Für besondere Formen der Arbeitszeit kann somit ein geringeres Entgelt vereinbart werden. Schrank und Heilegger/Schwarz vertreten dazu die Ansicht, dass unter einem geringeren Entgelt auch ein Abgehen von der Zuschlagsregelung für Überstunden verstanden werden könne. Im vorliegenden Fall muss diese Frage der Abdingbarkeit des Überstundenzuschlags allerdings nicht weiter vertieft werden, weil die hier zu beurteilenden Reisezeiten sowohl im Hilfszug als auch im selbst gelenkten Privatfahrzeug ohnedies als Vollarbeitszeiten zu qualifizieren sind.

Zur Vollarbeitszeit zählt zunächst Reisezeit mit Verrichtung der eigentlichen Arbeitsleistung oder mit dieser gleichwertiger Tätigkeiten. Als Vollarbeitszeit ist Reisezeit nach der Rsp auch dann zu werten, wenn die regelmäßige Reisetätigkeit, wie etwa bei einem Außendienstmitarbeiter oder Monteur, typisch mit der vereinbarten Dienstleistung verbunden ist, sodass sie zum ständigen Inhalt der Arbeitstätigkeit und damit zum ständigen Aufgabenkreis des Dienstnehmers gehört.

Es stellt sich somit die Frage, ob nach Maßgabe dieser Wertungen auch die in Rede stehenden Reisezeiten der Einsatzkräfte der Beklagten, die aus der Rufbereitschaft zum Hilfseinsatz gerufen werden, der Vollarbeitszeit zuzurechnen sind.

Für eine echte Reisezeit iSd § 20b AZG ist charakteristisch, dass sie vorhersehbar und planbar ist und während der Reise zwar eine Bindung an das Verkehrsmittel besteht, der Dienstnehmer sonst aber in der Gestaltung der Reise frei bleibt, weshalb durchaus von einer entspannten Reisebewegung ausgegangen werden kann. Demgegenüber trifft der Hilfseinsatz im Störfall die Einsatzkräfte im Allgemeinen unvorbereitet. Im Bewusstsein des bevorstehenden Einsatzes sind diese in der Regel auch einer besonderen Stress- und Belastungssituation ausgesetzt. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass sich die Hilfskräfte schon während der Reisebewegung mit dem Einsatz gedanklich beschäftigen und sie die Fahrt auch zur Informationsaufnahme bzw zur Abklärung der Lage nützen.

Die dargestellten Umstände sprechen für eine besondere Qualität der Reisezeit der Einsatzkräfte sowie für einen unmittelbaren Zusammenhang mit der eigentlichen Arbeitsverrichtung. Die Reisezeiten der Einsatzkräfte sind daher als Vollarbeitszeit zu qualifizieren.

Auf die Beurteilung der Frage, ob jedes angeordnete Lenken eines Kfz zur Vollarbeitszeit zählt, kommt es damit nicht an. Für die von den Vorinstanzen angenommene Differenzierung zwischen echter Reisezeit iSd § 20b AZG und den Fahrten mit einem Privat-Pkw besteht im gegebenen Zusammenhang kein Anlass. Im Verfahren ist auch nicht hervorgekommen, dass § 10 leg cit nur die Fälle der echten (passiven) Reisezeit iSd § 20b AZG erfassen soll.

Da die Hilfseinsätze nach ihrer Zweckbestimmung möglichst rasch und ohne Komplikationen erfolgen sollen, ist die vom Berufungsgericht vorgenommene Gleichstellung angeordneter Fahrten mit dem Privatfahrzeug mit - nach Maßgabe der Gestaltung des Einsatzes durch den Dienstgeber - dienstlich notwendigen Pkw-Fahrten gerechtfertigt. Nicht fraglich ist in diesem Zusammenhang, dass der Hilfseinsatz vom jeweiligen Vorgesetzten angeordnet und der Dienstnehmer aus der Rufbereitschaft zum Einsatz gerufen werden muss.