OGH: Zur Frage, inwieweit die durch den Abschluss eines Scheinwerkvertrags bewirkte Nichtabfuhr der Arbeitgeberbeiträge nach dem IESG einen Leistungsausschluss bewirken kann
Wird durch die ungewöhnliche Vertragsgestaltung zu einem Arbeitsverhältnis zu Lasten des Insolvenz-Entgelt-Fonds eine Ausbeutungssituation geschaffen und diese Situation vom Arbeitnehmer in einer einem Fremdvergleich nicht standhaltenden Weise (hier rund 15 Jahre) bewusst in Kauf genommen, so ist der Arbeitnehmer verpflichtet, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen; bei Unterbleiben solcher Maßnahmen ist die Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds grundsätzlich als rechtsmissbräuchlich zu beurteilen
§ 1 IESG, § 879 ABGB
GZ 8 ObS 2/11v, 22.02.2011
Der Kläger war vom 1. 2. 1992 bis 18. 4. 2007 bei der Gemeinschuldnerin K Inc beschäftigt, die mit Metall- und Börsenhandel befasst war. Er wurde von seiner Dienstgeberin nicht zur Sozialversicherung angemeldet. Die von ihm erbrachten Leistungen wurden auf Honorarbasis abgerechnet, wobei vom Kläger jeweils Honorarnoten ausgestellt wurden. Vom 1. 1. 1998 bis 31. 1. 2007 war er nach dem GSVG versichert. Ein schriftlicher Dienstvertrag wurde nicht abgeschlossen, ein Dienstzettel nicht ausgestellt. Lohnabrechnungen oder Urlaubs- und Krankenaufzeichnungen wurden ebenfalls nicht geführt.
OGH: In der Entscheidung 8 ObS 204/00h wurde zunächst unter Hinweis auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben klargestellt, dass die Leistungspflicht nach dem IESG grundsätzlich nicht die richtige Bezeichnung und vorherige Anmeldung des versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses und damit die Entrichtung der IESG-Beiträge zur Voraussetzung hat. Bei als typisch vorausgesetzten Verhandlungspositionen mit nur geringen Einflussmöglichkeiten des Arbeitnehmers bei der Vertragsgestaltung und der Nachteiligkeit der Gestaltung für den Arbeitnehmer kann im Allgemeinen auch nicht von einer Sittenwidrigkeit iSd § 879 ABGB ausgegangen werden. In der Rsp ist allerdings ebenso anerkannt, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine die Beitragsaufbringung beeinträchtigende Vertragsgestaltung die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt sittenwidrig machen kann. In diesem Sinn hat der OGH schon wiederholt ausgesprochen, dass "völlig atypisch gestaltete" Arbeitsverhältnisse, die nicht auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhalts gerichtet sind, auch nicht nach den Bestimmungen des IESG gesichert sind.
Ein Sittenwidrigkeitsurteil ist zudem dann gerechtfertigt, wenn eine atypische Verhandlungsposition vorlag und die Vertragsgestaltung vom Arbeitnehmer bewusst zu seinem eigenen Vorteil beeinflusst wurde. Wirken in einer solchen Situation Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, so ist im Rahmen eines Fremdvergleichs von zumindest bedingtem Vorsatz der Schädigung des Insolvenz-Entgelt-Fonds auszugehen. Das Institut des sog Fremdvergleichs ist dabei als relevantes verfahrensrechtliches Mittel für die Beurteilung der sicherungsschädlichen Übertragung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds anerkannt.
Die Wertungen dieser Rsp sind unter Heranziehung des Grundsatzes "venire contra factum proprium" weiterzuentwickeln und auf ähnliche Fälle einer atypischen Vertragsgestaltung zu erstrecken. Der beschriebenen Konstellation atypischer Verhandlungssituationen sind nach der Gewichtigkeit der Interessenbeeinträchtigung und den Wertungen der Rechtsgemeinschaft auch andere Fälle atypischer Gestaltung des Arbeitsverhältnisses gleichzuhalten, wenn der Arbeitnehmer nach dem Rechtsgefühl aller billig und gerecht denkenden Menschen zur Vermeidung einer Schädigung des Fonds gehalten ist, zumutbare Gegenmaßnahmen zu ergreifen und ein Verstoß zu einer bewussten Ausbeutung des Fonds führt. Dabei ist zu beachten, dass nach der jüngeren Rsp des OGH die zeitliche Komponente allein, also die Dauerhaftigkeit eines Zustands, für die Begründung eines Missbrauchsfalls noch nicht ausreicht. Werden aber bei ungewöhnlicher Vertragsgestaltung in einer einem Fremdvergleich nicht standhaltenden Weise effektive Maßnahmen zur Änderung der (hier) Ausbeutungssituation, gegebenenfalls auch die Androhung der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, nicht ergriffen, so muss die bewusste Inkaufnahme einer Ausbeutung des Fonds und die dadurch bewirkte Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds grundsätzlich ebenfalls als sittenwidrig angesehen werden.