OGH: Verhängung der Untersuchungshaft über nicht vernehmungsfähigen Beschuldigten?
Die Untersuchungshaft kann auch über einen nicht vernehmungsfähigen Beschuldigten verhängt werden; er ist jedoch zum ehest möglichen Zeitpunkt nach Wiedereintritt seiner Vernehmungsfähigkeit zu vernehmen
S 173 StPO, § 174 StPO
GZ 11 Os 140/08k, 01.10.2008
Im gerichtlichen Protokoll über die Vernehmung der Beschuldigten vor Verhängung der Untersuchungshaft ist festgehalten, dass "die Beschuldigte in stark beeinträchtigtem Zustand ist. Sie gibt an gerade erst geweckt worden zu sein, offenbar steht die Beschuldigte unter starken Medikamenten. Sie nickt bereits zu Beginn der Vernehmung ein, sie schläft sofort ein. Eine Vernehmung zum Sachverhalt erscheint nicht möglich."
OGH: Gem § 174 Abs 1 erster Satz StPO, der insoweit das Verfassungsgebot des Art 4 Abs 3 PersFrSchG konkretisiert, ist jeder festgenommene Beschuldigte vom Gericht unverzüglich nach seiner Einlieferung in die Justizanstalt zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu vernehmen. Eine Regelung für den Fall, dass die Vernehmung aus in der Person des Beschuldigten liegenden Gründen faktisch nicht möglich ist, fehlt. Um diese planwidrige Lücke zu schließen, sind bei einer solchen Konstellation die Vorschriften des § 176 Abs 3 StPO, wonach der Beschuldigte nicht zur Verhandlung vorzuführen ist, wenn dies wegen seiner Krankheit nicht möglich ist, und des § 429 Abs 2 Z 5 StPO, wonach von Vernehmungen des Betroffenen abzusehen ist, soweit sie wegen seines Zustands nicht oder nur unter erheblicher Gefährdung seiner Gesundheit möglich sind, im Wege der Gesetzesanalogie sinngemäß anzuwenden. Es kann somit die Untersuchungshaft auch über einen nicht vernehmungsfähigen Beschuldigten verhängt werden.
Gem Art 4 Abs 3 PersFrSchG ist eine dem Gericht übergebene Person ohne Verzug vom Richter zur Sache und zu den Voraussetzungen der Anhaltung zu vernehmen. Dadurch soll dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden, zu den Vorwürfen in der Sache und zur Frage des Vorliegens von Haftgründen Stellung zu nehmen, seinen Standpunkt darzulegen und zu seiner Verteidigung Zweckdienliches zu beantragen und anzuregen. Diesem verfassungsrechtlichen Gebot ist daher in Fällen der Unmöglichkeit der Befragung unmittelbar nach Einlieferung in die Justizanstalt dadurch Rechnung zu tragen, dass der Festgenommene zum ehest möglichen Zeitpunkt nach Wiedereintritt seiner Vernehmungsfähigkeit vernommen wird. Dass dies in den 14 Tagen zwischen Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft nicht möglich gewesen wäre, lässt sich dem Akt aber nicht entnehmen.
§ 174 Abs 1 erster Satz StPO stellt eine für die Verhängung der Untersuchungshaft grundlegende Verfahrensvorschrift dar (s § 173 Abs 1 erster Satz StPO), deren Verletzung das Grundrecht auf persönliche Freiheit substantiell berührt.