17.12.2009 Strafrecht

OGH: Zur Frage, ob § 221 Abs 2 erster Satz StPO verletzt wird, wenn einem 14 Tage vor der kontradiktorischen Vernehmung einer Zeugin gestellten Antrag auf Ausfolgung einer Kopie des Akteninhalts erst am Vortag der Vernehmung entsprochen wird

Der Schutzzweck des § 221 Abs 2 erster Satz StPO wird unterlaufen, wenn einem 14 Tage vor der kontradiktorischen Vernehmung einer Zeugin gestellten Antrag auf Ausfolgung einer Kopie des Akteninhalts erst am Vortag der Vernehmung entsprochen wird


Schlagworte: Verteidigungsrechte, Fragerecht, Vorbereitungsfrist, Akteneinsicht, kontradiktorische Vernehmung, Aussagebefreiung
Gesetze:

§ 221 Abs 2 erster Satz StPO, § 165 StPO, § 156 Abs 1 Z 2 StPO

GZ 14 Os 75/09z, 06.10.2009

OGH: § 221 Abs 2 erster Satz StPO billigt sowohl dem Angeklagten als auch seinem Verteidiger eine unter ausdrücklicher Nichtigkeitssanktion stehende Vorbereitungsfrist zu, um dem von Art 6 Abs 3 lit d iVm lit b und c EMRK garantierten Recht Genüge zu tun, durch einen ausreichend vorbereiteten Verteidiger Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Da sachgerechte Zeugenbefragung vorangegangene Akteneinsicht erfordert, wird der Schutzzweck von § 221 Abs 2 erster Satz StPO dann unterlaufen, wenn einem 14 Tage vor der kontradiktorischen Vernehmung einer Zeugin gestellten Antrag auf Ausfolgung einer Kopie des Akteninhalts erst am Vortag der Vernehmung entsprochen wird.

Zum Ausgleich der bereits grundrechtsverletzend durchgeführten (vgl § 87 Abs 3 StPO) kontradiktorischen Vernehmung hätte das Instanzgericht deren Ergänzung samt Feststellung anordnen müssen, dass der Zeugin dabei keine auf § 156 Abs 1 Z 2 StPO gegründete Befreiung von der Aussagepflicht zukommt. Ein solcher Vorrang des Verteidigungsinteresses des Beschuldigten gegenüber dem Zeugenschutz des § 156 Abs 1 Z 2 StPO ist Ergebnis der in der fehlenden Nichtigkeitssanktion zum Ausdruck kommenden, ihrerseits unbedenklichen Wertentscheidung des einfachen Gesetzgebers, welche auch dazu führen kann, dass dem in der Hauptverhandlung gestellten Antrag des im Zeitpunkt der kontradiktorischen Vernehmung noch nicht durch einen Verteidiger vertreten gewesenen Angeklagten auf ergänzende Befragung eines sonst nach § 156 Abs 1 Z 2 (§ 248 Abs 1 erster Satz) StPO von der Pflicht zur Aussage befreiten Zeugen bei sonstiger Nichtigkeit aus Z 4 des § 281 Abs 1 StPO Folge zu geben ist.