14.02.2012 Zivilrecht

OGH: Vorrang gem § 19 StVO – zum Verhältnis von § 19 Abs 6a StVO (Radweg verlassender Radfahrer) zu § 19 Abs 4 StVO (Vorrang geben)

Die eindeutigere Vorrangregel des § 19 Abs 4 StVO geht idR der Vorrangregel des § 19 Abs 6a StVO vor


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Verkehrsrecht, Vorrang geben, Radfahrer, Radweg, Kreuzung
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 19 StVO, § 2 Abs 1 Z 17 StVO

GZ 2 Ob 135/11h, 19.01.2012

 

Am 28. 6. 2007 ereignete sich gegen 8:30 Uhr in 1160 Wien auf der Kreuzung der Hasnerstraße mit der Arltgasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer sowie der Drittbeklagte als Lenker eines bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherten und von der Zweitbeklagten gehaltenen PKW beteiligt waren. Die Arltgasse, die der Drittbeklagte in Richtung Thaliastraße befuhr, ist eine Einbahn, die bei der Kreuzung mit der Hasnerstraße in die Fahrbahn des Schuhmeierplatzes übergeht, und dort in beide Fahrtrichtungen befahrbar ist. In Fahrtrichtung des Drittbeklagten gesehen vor der Hasnerstraße befindet sich ein Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ und ein darüber angebrachtes Gefahrenzeichen „Achtung Gegenverkehr“ sowie in einigem Abstand rechts davon ein Gefahrenzeichen „Andere Gefahren“ mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“. Die Verlängerung der Hasnerstraße ist nach der Kreuzung mit der Arltgasse mit Kraftfahrzeugen nicht mehr befahrbar, sondern in den Park des Schuhmeierplatzes integriert. Im Bereich des früheren nordseitigen Gehsteigs der Verlängerung befindet sich ein Geh- und Radweg, den der Kläger benutzte. Der Geh- und Radweg endet bei der Arltgasse, was durch ein entsprechendes Verkehrszeichen kundgemacht ist.

 

Der Drittbeklagte hielt eine Geschwindigkeit von etwa 30 km/h ein, die er im Bereich der Kreuzung auf etwa 25 km/h verringerte. Der Drittbeklagte achtete auf allfälligen Gegenverkehr und Verkehr aus der von rechts einmündenden Hasnerstraße, nicht aber auf von links kommende Radfahrer und sah den Kläger vor der Kollision nicht. Der Kläger fuhr mit etwa 5 km/h und hatte vor, die Arltgasse zu queren und in der Hasnerstraße weiterzufahren. Als er den Gehsteig der Arltgasse querte, achtete er auf allenfalls von links kommende Fahrzeuge, nicht aber auf von rechts kommende. Er sah daher das Beklagtenfahrzeug erst unmittelbar vor der Kollision und versuchte vergeblich auszuweichen. Beiden Unfallbeteiligten war durch einen geparkten Kastenwagen die Sicht aufeinander eingeschränkt. Danach war beiden bei den jeweils eingehaltenen Geschwindigkeiten ein kollisionsfreies Anhalten nicht mehr möglich.

 

OGH: Zum räumlichen Geltungsbereich des Verkehrszeichens „Vorrang geben“:

 

In diesem Zusammenhang meinen die Beklagten, dass der Einmündungsbereich des Geh- und Radwegs in die Arltgasse nicht als Kreuzung iSd § 2 Abs 1 Z 17 StVO anzusehen sei. Selbst wenn man aber von einer Kreuzung ausgehe, sei das Verkehrszeichen „Vorrang geben“ unmittelbar vor der (ersten) Kreuzung der Arltgasse mit der Hasnerstraße angebracht, jedoch 16 m vor der (zweiten) Kreuzung mit dem Ende des Radwegs, sodass dieses Verkehrszeichen in Bezug auf die Einmündung des Radwegs im Hinblick auf § 51 Abs 2 StVO nicht gehörig kundgemacht sei.

 

Gem § 2 Abs 1 Z 17 StVO ist eine Kreuzung eine Stelle, auf der eine Straße eine andere überschneidet oder in sie einmündet, gleichgültig in welchem Winkel. Unter Straße ist gem § 2 Abs 1 Z 1 StVO eine für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen zu verstehen. Ein Geh- und Radweg ist nach § 2 Abs 1 Z 11a StVO ein für den Fußgänger- und Fahrradverkehr bestimmter und als solcher gekennzeichneter Weg.

 

Auch ein Geh- und Radweg ist daher eine Straße iSd StVO und die Einmündung eines Radwegs in eine andere Straße eine Kreuzung.

 

Soweit die Revision meint, es handle sich hier um eine „Ausfahrt“ von einem früher endenden Radweg, ist ihr entgegenzuhalten, dass - selbst wenn man dieser Argumentation folgte - die Voraussetzung einer Kreuzung auch selbständige Verkehrsflächen erfüllen können, die nicht dem fließenden Verkehr dienen und deren Benutzer zB gem § 19 Abs 6 StVO gegenüber dem fließenden Verkehr wartepflichtig sind. Bei Ausfahrten von Häusern oder Grundstücken udgl fehlt es zwar regelmäßig am Merkmal einer anderen Straße, mit der eine Kreuzung gebildet werden könnte, dies bedeutet aber selbst dort keineswegs, dass solchen Verkehrsflächen generell immer die Qualifikation als Straße abgesprochen werden kann. Umso weniger kann dies für die Einmündung eines Radwegs gelten, auch wenn bei seinem Verlassen der Gehsteig der querenden Straße zu überfahren ist.

 

Die Frage, ob das Zusammentreffen mehrerer Straßen als einheitliche Kreuzung anzusehen ist, kann nur im Einzelfall nach der gesamten straßenbaulichen Situation beurteilt werden.

 

Eine Kreuzung reicht von Baulinie zu Baulinie und umfasst auch Nebenfahrbahnen und Gehsteige. Sie wird von den gemeinsamen Schnittflächen der sich kreuzenden Straßen gebildet. Auch ein Schutzweg an einer Kreuzung gehört noch zum Kreuzungsbereich, ebenso die gedachte Verlängerung der Gehsteige.

 

Hier bildet auch der auf dem ehemaligen Gehsteig der nun von Kraftfahrzeugen nicht mehr befahrbaren Verlängerung der Hasnerstraße gelegene Geh- und Radweg eine Schnittlinie mit der Arltgasse und der Hasnerstraße iSd oben genannten Judikatur. Seine gedachte Verlängerung gehört daher der gemeinsamen Schnittfläche der sich kreuzenden Straßen an.

 

Es ist daher entgegen der Ansicht der Revision von einer einheitlichen und einzigen Kreuzung auszugehen. Daraus folgt, dass das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ in Bezug auf die einheitliche Kreuzung ordnungsgemäß kundgemacht und für den gesamten Kreuzungsbereich inklusive der Einmündung des Geh- und Radwegs wirksam aufgestellt war.

 

Damit stellt sich die Frage des Verhältnisses zwischen § 19 Abs 4 StVO und § 19 Abs 6a StVO:

 

Wie bereits die Vorinstanzen und die Revision dargelegt haben, betraf die Entscheidung 2 Ob 256/04t die Kreuzung eines Radwegs mit einer Straße, auf der sich eine Stop-Tafel befand, und ist daher mit der hier vorliegenden Situation nicht hinreichend vergleichbar. In 2 Ob 40/08h hat der erkennende Senat ausgesprochen, dass ein auf einer Nebenfahrbahn vor einem einmündenden, endenden Radweg aufgestelltes Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ die Nebenfahrbahn abwertet und damit dem vom Radweg kommenden Verkehrsteilnehmer der Vorrang zukommt, sodass es auf weitere Überlegungen zum Vorrangverhältnis der in § 19 Abs 6a bis 6b StVO genannten Verkehrsflächen untereinander (insb Nebenfahrbahn - Fließverkehr) nicht mehr ankam. Weiters wurde in 2 Ob 233/08s zum Verhältnis § 19 Abs 4 StVO zu § 19 Abs 6 StVO ausgesprochen, dass die eindeutigere Vorrangregel der erstgenannten Bestimmung der komplexeren der zweitgenannten vorgehe.

 

Davon ist auch in der hier vorliegenden Konstellation auszugehen:

 

Der Drittbeklagte hatte sowohl das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ als auch ein Gefahrenzeichen mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“ zu beachten. Aufgrund dieser Beschilderungssituation musste ihm klar sein, dass Radfahrer sowohl von rechts (für deren Vorrang bedurfte es im Hinblick auf § 19 Abs 1 StVO keines Vorschriftzeichens) als auch von links kommen konnten. Dass der Radweg bei der Kreuzung mit der Arltgasse endete (und somit für einen sich von dort annähernden Radfahrer eine Situation iSd § 19 Abs 1 Z 6a StVO vorlag) war für ihn nicht erkennbar, umgekehrt dagegen für den Radfahrer die signifikante Form des Vorschriftzeichens „Vorrang geben“ durchaus.

 

Der erkennende Senat ist daher der Ansicht, dass auch bei dieser Kreuzungssituation im Hinblick auf die notwendige Schnelligkeit, mit der Verkehrsteilnehmer die Vorrangsituation beurteilen können müssen, und iSe möglichst einfachen Handhabbarkeit die eindeutigere Vorrangregelung des § 19 Abs 4 StVO vorzugehen hat. Es ist daher in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen davon auszugehen, dass den Drittbeklagten die Wartepflicht traf.

 

Dass das Gefahrenzeichen mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“ wie die Revision meint „exzentrisch“ angebracht war, weil es nicht unmittelbar neben dem Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ sondern weiter rechts angebracht war, ändert an dieser Beurteilung nichts, waren doch beide Verkehrszeichen unstrittigermaßen für den sich annähernden Drittbeklagten ungehindert wahrnehmbar.