OGH: Arbeitsunfall und Vorschädigung – zur Frage, ob das Tragen eines mehr als 20 kg schweren Gegenstands mit einer speziellen Gewichtseinwirkung auf den Körper als „alltägliche Verrichtung“ anzusehen ist
Es ist nicht einzusehen, weshalb das Tragen von Gewichten „im Bereich von mehr als 20 kg“, selbst dann, wenn es mit einer „Einwirkung in Form einer Kante oder einer punktuellen Einwirkung“ verbunden ist, jedenfalls (noch) als „alltägliche Verrichtung“ angesehen werden sollte
§ 175 ASVG
GZ 10 ObS 82/13a, 25.06.2013
OGH: Für die Qualifikation eines Unfalls als Arbeitsunfall ist erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten Ereignis (Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat.
Dass der Unfall (Zerrung der Wadenmuskulatur) des Klägers, den er auf seinem Heimweg von der Arbeit unter den vom Berufungsgericht näher festgestellten Umständen erlitt, ein Arbeitsunfall ist, der dem Unfallversicherungsschutz unterliegt, hat die beklagte Partei ausdrücklich anerkannt und ist unstrittig.
Was nun die Kausalität des Wegunfalls für den strittigen Gesundheitsschaden (Oberschenkelamputation nach Gefäßverschluss) betrifft, war im Fall des Klägers nicht feststellbar, ob die Thrombose (überhaupt) durch das abrupte Einknicken des Beins ausgelöst wurde. Es wurde auch nicht festgestellt, dass ein [anderes] rein zufälliges Ereignis zu einer Schädigung des Bypasses geführt hätte, sondern nur, dass eine „geringfügig höhere“ Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Folgen des Arbeitsunfalls (Zerrung der Wadenmuskulatur) zu einem Gefäßverschluss geführt haben.
Ausdrücklich fest steht demgegenüber, dass die vor dem Unfall bestehenden Gesundheitsstörungen des Versicherten (schwere Arteriosklerose in den Beinarterien) „Hauptursache für die Amputation“ waren, und dass es bei gesunden Gefäßen nach einer Zerrung der Wadenmuskulatur nicht zu diesem folgenschweren Gefäßverschluss gekommen wäre.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann sich der Kläger daher gar nicht auf einen Anscheinsbeweis stützen, weil ein Gefäßverschluss eben nicht typische Folge der vom Versicherten davor ausgeführten „Verrichtungen“ (hier: des als Unfallereignis zu wertenden Stolperns beim Stiegensteigen) war. Daher trifft den Kläger die objektive Beweislast für das Vorliegen eines Arbeits-(Weg-)unfalls.
Wirkt am Eintritt des Gesundheitsschadens oder Todes des Versicherten neben der Ursache aus dem Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung auch eine Vorerkrankung (Vorschädigung) mit, so wird in stRsp des OGH der Körperschaden (Tod) nach der Theorie der wesentlichen Bedingung nur dann der Unfallversicherung zugerechnet, wenn er ohne den Umstand aus der Gefahrensphäre der Unfallversicherung erheblich später oder erheblich geringer eingetreten wäre. Als nicht wesentlich wird eine Bedingung angesehen, wenn die Schädigung durch ein alltäglich vorkommendes Ereignis zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd demselben Ausmaß hätte ausgelöst werden können. Alltäglich sind die Belastungen, die altersentsprechend üblicherweise mit gewisser Regelmäßigkeit im Leben, wenn auch nicht jeden Tag auftreten, wie etwa ein normales oder beschleunigtes Gehen, Treppensteigen, Bücken, leichtes bis mittelschweres Heben (zB eines Koffers, einer Bierkiste, einer Mineralwasserkiste udgl) oder ähnliche Kraftanstrengungen.
In Anwendung dieser Grundsätze auf den Kläger ist nicht davon auszugehen, dass alltägliche Belastungen einen derart folgenschweren Gefäßverschluss bei ihm auslösen konnten, sodass die Beurteilung, das dem versicherten Arbeitsweg zuzurechnende Unfallgeschehen sei wesentliche Bedingung für die wegen der Thrombose nötige Oberschenkelamputation gewesen, zutrifft:
Das Berufungsgericht hat zunächst zum (einzigen) Beispielfall des Erstgerichts für eine alltägliche Belastung, die geeignet wäre, einen gleichartigen Gefäßverschluss herbeizuführen - im Gegensatz zum Erstgericht - festgestellt, dass ein Übereinanderschlagen der Beine im Sitzen aufgrund der besonderen Lagerung des Bypasses beim Kläger nicht geeignet war, „den Bypass zu beeinträchtigen“. Gleichzeitig hat es andere Beispiele aufgezeigt, wie es zu einem Gefäßverschluss hätte kommen können, dazu jedoch nachvollziehbar dargelegt, diese seien nicht als „alltägliche Verrichtungen“ anzusehen, weil sie schwere körperliche Belastungen darstellten.
Dem ist letztlich zuzustimmen: Ist doch nicht einzusehen, weshalb das Tragen von Gewichten „im Bereich von mehr als 20 kg“, selbst dann, wenn es mit einer „Einwirkung in Form einer Kante oder einer punktuellen Einwirkung“ verbunden ist, jedenfalls (noch) als „alltägliche Verrichtung“ angesehen werden sollte: Eine - hier von beiden Parteien ins Treffen geführte - Bierkiste mit 20 Flaschen zu je 0,5 Liter ist zwar mehr als die bereits aus dem Gewicht der Flüssigkeit abzuleitenden 10 kg (auf die sich der Kläger beruft) schwer, hat aber, wie auch eine Kiste Mineralwasser, jedenfalls nicht (wie die beklagte Partei meint) ein Gewicht „von mehr als 20 kg“ (das man gerade noch alleine tragen kann). Außerdem kommt es beim Heben und Tragen solcher Kisten oder eines Koffers (die als alltägliche Belastung zu beurteilen wären) nicht zu der hier erforderlichen Einwirkung des Gewichts in Form einer Kante oder an einem bestimmten Punkt (nämlich an den Körper gepresst im Bereich der Leiste) oder zu einer großflächigeren Einwirkung eines den Wert von 20 kg in noch größerem Ausmaß übersteigenden Gewichts.
Da es hier allein darauf ankommt, ob der Schaden auch bei einer „Alltagsbelastung“ in absehbarer Zeit eingetreten wäre, kann sich die beklagte Partei auch darauf nicht berufen, dass der Kläger vor dem Unfall (nach den Klagsangaben) sowohl seiner Arbeitstätigkeit als auch sportlichen Tätigkeiten „uneingeschränkt nachgehen“ konnte. Dies ist nämlich gar nicht entscheidend. Maßgebend ist vielmehr, dass nach der in dritter Instanz unangreifbaren Tatsachengrundlage eben nicht davon auszugehen ist, dass im vorliegenden Fall bereits eine alltägliche Belastung des (wenn auch durch ein „extrem geschädigtes sklerotisches System“ samt Kunststoffbypass schwer beeinträchtigten) linken Beines des Klägers geeignet war, einen derart folgenschweren Gefäßverschluss herbeizuführen, dass der Oberschenkel amputiert werden musste.