OGH: Falsche Reaktion auf ein plötzlich auftauchendes Hindernis – Mitverschulden eines zu Sturz gekommenen Motorradlenkers?
Wird ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen und trifft er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme, dann kann ihm dies nicht als Mitverschulden angerechnet werden
§§ 1295 ff ABGB, § 1304 ABGB, § 20 StVO, § 18 StVO
GZ 2 Ob 160/16t, 27.10.2016
OGH: Nach § 18 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs stets einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird.
Nach § 20 Abs 1 Satz 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen, sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen.
Zu Recht hat das Berufungsgericht einen Verstoß des Klägers gegen § 18 Abs 1 StVO verneint: Beim Hintereinanderfahren gem § 18 StVO genügt idR ein dem Reaktionsweg entsprechender Sicherheitsabstand, wenn nicht besondere Umstände einen größeren Abstand geboten erscheinen lassen. Bei der vom Kläger vor seinem Abbremsen eingehaltenen Geschwindigkeit von 90 km/h beträgt der Reaktionsweg etwa 25–27 m. Festgestellt wurde ein Tiefenabstand von 35–40 m, der somit ausreichend war. Besondere Umstände, die einen größeren Abstand geboten erscheinen ließen, liegen bei der vorzunehmenden Ex-ante-Betrachtung nicht vor; denn der auf der Fahrbahn liegende Fahrzeugteil war nach dem Vorbringen des Klägers und dem impliziten Zugeständnis des Beklagten für den Kläger erst erkennbar, als das vor ihm fahrende Fahrzeug an diesem vorbeigefahren war oder ihn aufgewirbelt hatte.
Der Kläger hat aber auch gegen § 20 Abs 1 Satz 1 StVO nicht verstoßen: Der Lenker eines Kraftfahrzeuges muss zwar bei der Wahl seiner Fahrgeschwindigkeit auch solche Hindernisse in Betracht ziehen, mit denen er bei Beachtung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung zu rechnen hat. Er genügt aber seiner Pflicht, wenn er die Geschwindigkeit den Umständen anpasst, die ihm bei der Fahrt erkennbar werden oder mit denen er nach der Erfahrung des Lebens zu rechnen hat. Auf völlig unberechenbare Hindernisse und insbesondere auch auf Hindernisse, die auf Grund von nicht rechtzeitig erkennbaren Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer in die Fahrbahn gelangen, braucht er aber seine Geschwindigkeit nicht einzurichten. Im vorliegenden Fall war der vor dem Vorbeifahren des Pkw für den Kläger nicht wahrnehmbare Fahrzeugteil ein solches Hindernis, auf das er seine Fahrgeschwindigkeit konkret nicht einrichten musste.
Seine Reaktion auf das Ansichtigwerden des Fahrzeugteils war zwar rückblickend objektiv falsch; bei richtiger Reaktion („dosierte Bremsung“) wäre der Unfall unterblieben. Wird aber ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen und trifft er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme, dann kann ihm dies nach stRsp nicht als Mitverschulden angerechnet werden. Ein solcher Fall liegt hier vor.