03.06.2019 Zivilrecht

OGH: Unfall auf Schipiste – zur Frage, ob derjenige, der von einer (gesperrten) Skiroute in eine Piste einfährt, Nachrang gegenüber den auf der Piste fahrenden Wintersportlern hat

Nach der Beurteilung des Berufungsgerichts dürfen Pistenkreuzungen oder Pisteneinmündungen den FIS-Regeln 1 und 2 entsprechend nur mit erhöhter Aufmerksamkeit und Vorsicht befahren werden, weil diese erfahrungsgemäß besonders neuralgische und kollisionsträchtige Pistenbereiche seien; für den Publikumsverkehr bestehe zwischen Piste und gesperrter Route kein „Vorrang-Nachrang-Verhältnis“; der Schutzzweck der Sperre dieser Skiroute sei nicht die Hintanhaltung von Gefahren im Kreuzungs- bzw Einmündungsbereich gewesen, sondern die Sperre habe allein der reibungslosen Durchführung des Skirennens gedient; die Skiroute sei am Unfalltag auch nicht mit einem Absperrband oder einem Zaun zur Piste hin abgegrenzt gewesen und daher habe auch optisch kein Unterschied zu einer „echten“ Pistenkreuzung bestanden; bei dieser Konstellation habe der Beklagte nicht darauf vertrauen dürfen, dass er Vorrang vor den von der Skiroute kommenden Wintersportlern gehabt habe, sondern für beide Parteien hätte das allgemeine Rücksichtnahmegebot iSd FIS-Regel 1 sowie das Gebot des kontrollierten Fahrens nach FIS-Regel 2 gegolten; diese Aufmerksamkeit und Vorsicht hätten beide missachtet; der Kläger habe den Beklagten vor seiner Einfahrt in die Piste gesehen, der Beklagte hätte den Kläger leicht sehen können; beide Parteien hätten den Unfall leicht verhindern können, wenn sie aufmerksam gefahren wären und auf den späteren Unfallgegner, den sie über eine ausreichend lange Zeit sehen konnten, geachtet hätten und ausgewichen wären; für den Beklagten habe auch keine atypische Pistensituation vorgelegen, sondern aufgrund des Rennens sei lediglich die Geradeausfahrt nach der Einmündung der Route durch einen Sichtzaun abgesperrt gewesen und die Piste sei deshalb nach links geleitet worden; damit sei von einer Verschuldensteilung von 1 : 1 auszugehen; diese Rechtsansicht ist nicht zu beanstanden


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Schipiste, Unfall, FIS-Regeln, Einfahren von gesperrter Skiroute, Rücksichtnahmegebot, Mitverschulden
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1304 ABGB

 

GZ 1 Ob 59/19m, 30.04.2019

 

OGH: Die von verschiedenen Institutionen und Autoren ausgearbeiteten Verhaltensvorschriften für Skifahrer wie die Bestimmungen des „Pistenordnungsentwurfs des Österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit“ (POE-Regeln) oder die FIS-Regeln sind keine gültigen Rechtsnormen, insbesondere auch nicht Gewohnheitsrecht. Als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Skisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind, und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet, kommt diesen Regeln jedoch erhebliche Bedeutung zu.

 

Nach der FIS-Regel 1 (Rücksichtnahme auf andere Skifahrer und Snowboarder) und auch schon nach allgemeinen Grundsätzen muss sich jeder Skifahrer und Snowboarder so verhalten, dass er keinen anderen gefährdet oder schädigt. In neuralgischen Pistenbereichen, wie etwa einem Gegenverkehrsbereich, besteht daher eine Verpflichtung zur besonderen Vorsicht und Aufmerksamkeit sowie zur Beobachtung des „entgegenkommenden Verkehrs“.

 

Nach der FIS-Regel 2 (Beherrschung der Geschwindigkeit und der Fahrweise) besteht für jeden Skifahrer und Snowboarder das Gebot des Fahrens auf Sicht und zur kontrollierten Fahrweise.

 

Nach der FIS-Regel 5 (Einfahren, Anfahren und hangaufwärts Fahren) muss jeder Skifahrer und Snowboarder, der in eine Abfahrt einfahren, nach einem Halt wieder anfahren oder hangaufwärts schwingen oder fahren will, sich nach oben und unten vergewissern, dass er dies ohne Gefahr für sich und andere tun kann. FIS-Regel 5 ist Ausdruck des Gedankens, dass denjenigen, der sich in atypischer Weise entgegen der allgemeinen Fahrtrichtung bewegt – oder sich erst in den Pistenverkehr einordnet – und so eine Gefahr begründet, die andere Pistenbenützer häufig überrascht, besondere Sorgfaltspflichten treffen.

 

FIS-Regel 8 (Beachten der Zeichen) verpflichtet jeden Skifahrer und Snowboarder, die Markierung und die Signalisation zu beachten. Nach den Erläuterungen zu dieser FIS-Regel sind Pisten mit Hinweis-, Gefahren- und Sperrtafeln gekennzeichnet. Ist eine Piste als gesperrt oder geschlossen bezeichnet, ist es ebenso zwingend zu beachten wie der Hinweis auf Gefahren. Die FIS-Regel 8 ist va für Haftungsfragen betreffend den Pistenhalter relevant, der sich auf die Einhaltung seiner Anweisungen weitgehend verlassen kann.

 

Der Kläger fuhr von einer (für den allgemeinen Publikumsverkehr – aber nicht für an der Vorbereitung des Skirennens Beteiligte – gesperrten) präparierten Skiroute in die Piste ein. Das ist nicht einem Einfahren aus dem freien Skiraum in eine Piste entsprechend FIS-Regel 5 gleichzusetzen. Ein von einer Skiroute in eine Skipiste wechselnder Wintersportler fährt nicht iSd FIS-Regel 5 in eine „Abfahrt“ ein, sondern befindet sich schon auf einer solchen. Der Unterschied zwischen einer Piste und einer Skiroute besteht (lediglich) darin, dass sich für den Routenhalter erheblich geringere Anforderungen an Haftung und Sicherung ergeben. Nach der Definition der ÖNORM S 4611 wird eine Skiroute nur markiert und vor Lawinengefahr gesichert, idR jedoch nicht präpariert oder kontrolliert.

 

Nach der Beurteilung des Berufungsgerichts dürfen Pistenkreuzungen oder Pisteneinmündungen den FIS-Regeln 1 und 2 entsprechend nur mit erhöhter Aufmerksamkeit und Vorsicht befahren werden, weil diese erfahrungsgemäß besonders neuralgische und kollisionsträchtige Pistenbereiche seien. Für den Publikumsverkehr bestehe zwischen Piste und gesperrter Route kein „Vorrang-Nachrang-Verhältnis“. Der Schutzzweck der Sperre dieser Skiroute sei nicht die Hintanhaltung von Gefahren im Kreuzungs- bzw Einmündungsbereich gewesen, sondern die Sperre habe allein der reibungslosen Durchführung des Skirennens gedient. Die Skiroute sei am Unfalltag auch nicht mit einem Absperrband oder einem Zaun zur Piste hin abgegrenzt gewesen und daher habe auch optisch kein Unterschied zu einer „echten“ Pistenkreuzung bestanden. Bei dieser Konstellation habe der Beklagte nicht darauf vertrauen dürfen, dass er Vorrang vor den von der Skiroute kommenden Wintersportlern gehabt habe, sondern für beide Parteien hätte das allgemeine Rücksichtnahmegebot iSd FIS-Regel 1 sowie das Gebot des kontrollierten Fahrens nach FIS-Regel 2 gegolten. Diese Aufmerksamkeit und Vorsicht hätten beide missachtet. Der Kläger habe den Beklagten vor seiner Einfahrt in die Piste gesehen, der Beklagte hätte den Kläger leicht sehen können. Beide Parteien hätten den Unfall leicht verhindern können, wenn sie aufmerksam gefahren wären und auf den späteren Unfallgegner, den sie über eine ausreichend lange Zeit sehen konnten, geachtet hätten und ausgewichen wären. Für den Beklagten habe auch keine atypische Pistensituation vorgelegen, sondern aufgrund des Rennens sei lediglich die Geradeausfahrt nach der Einmündung der Route durch einen Sichtzaun abgesperrt gewesen und die Piste sei deshalb nach links geleitet worden. Damit sei von einer Verschuldensteilung von 1 : 1 auszugehen. Diese Rechtsansicht ist nicht zu beanstanden.

 

In unmittelbarer Nähe des Einmündungsbereichs waren weder Warntafeln noch Hinweiszeichen angebracht. Weiter entfernt wiesen Schilder darauf hin, dass die Familienstreif teilweise nur erschwert befahrbar ist bzw dass Pistenabschnitte gesperrt oder umgeleitet werden. Entgegen der Ansicht des Kläger spielt die FIS-Regel 8 keine Rolle. Der Unfall ereignete sich auch nicht auf einer gesperrten Piste.

 

Dass der Kläger am Unfallstag als freiwilliger Helfer im Rahmen des bevorstehenden Rennens im Skigebiet tätig war und seiner Tätigkeit nachging, entbindet ihn nicht von seinen Sorgfaltspflichten gegenüber anderen Skifahrern. Für seine Behauptung, dass er „als Helfer im Vorrang gegenüber dem Beklagten“ gewesen sei, vermag er keine rechtliche Begründung anzuführen.

 

Entgegen der Ansicht des Beklagten fand die Frontalkollision nicht im Zuge eines Bergauffahrens des Klägers auf der Piste statt.

 

Eine unterschiedliche Gewichtung des jeweiligen Aufmerksamkeitsfehlers zu Lasten eines der beiden Skifahrer ist in dieser Situation nicht sachgerecht, weil keiner der Beteiligten ein primär unfallauslösendes Verhalten setzte, sondern beide unaufmerksam aufeinander zufuhren. Damit ist die von den Vorinstanzen vorgenommene Teilung des Schadens im Verhältnis 1 : 1 nach § 1304 ABGB nicht korrekturbedürftig.