30.11.2021 Zivilrecht

OGH: Sturz während Gefahrenbremsung mit Motorrad ohne ABS – zur Frage des Mitverschuldens eines Prüflings bei einem Unfall anlässlich einer Fahrprüfung

Der Klägerin musste aufgrund ihrer bis auf die praktische Prüfung abgeschlossenen Ausbildung die höhere Gefährlichkeit der Ablegung der Prüfung unter den gegebenen Umständen klar sein, wurde ihr doch im Rahmen der theoretischen Ausbildung vermittelt, dass mit einem Motorrad ohne ABS bei einer stärkeren Bremsung erhöhte Sturzgefahr besteht und man für die richtige Bremstechnik sehr viel Übung braucht; obwohl sie mit Ausnahme einer kurzen Ausfahrt keine praktischen Erfahrungen mit dem Prüfungsmotorrad hatte und auch während des kurzen Einfahrens keine speziellen Bremsübungen mehr durchführen konnte, beharrte sie darauf, die Prüfung „unbedingt an diesem Tag“ zu absolvieren; selbst nach dem dreimaligen Scheitern an der Gefahrenbremsung versuchte sie, den an sich vorgesehenen Prüfungsabbruch aktiv und aus Eigenem abzuwenden und setzte aus eigener Initiative die Einräumung eines vierten Versuchs beim Prüfer durch; dieses uneinsichtige Verhalten ist der Klägerin als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten anzurechnen; der Senat erachtet aber in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Einzelfalls lediglich ein Mitverschulden von einem Viertel für angemessen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Fahrschule, Fahrprüfung, Motorradsturz, kein ABS, Mitverschulden
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1304 ABGB

 

GZ 2 Ob 52/21t, 28.09.2021

 

OGH: Was das Verschulden des Beklagten anlangt, kann auf die insoweit zutreffende Begründung des Berufungsgerichts verwiesen werden (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Die Richtigkeit seiner Auslegung wird auch dadurch gestützt, dass der anwesende Fahrlehrer die Klägerin vor und während der Prüfung beobachtete, ihr im Vorfeld der Prüfung noch Ratschläge erteilte und sich auch zur Frage der Schutzkleidung ihr gegenüber geäußert hat.

 

Somit ist dem Beklagten das ihm nach § 1313a ABGB zuzurechnende, in der Verletzung vertraglicher Sorgfaltspflichten gelegene Fehlverhalten des die Klägerin bei der Prüfung betreuenden, vom Berufungsgericht zu Recht als Sachverständiger iSd § 1299 ABGB qualifizierten Fahrlehrers anzulasten, der die Klägerin mit dem ungewohnten Motorrad gar nicht erst zur Prüfung antreten lassen hätte dürfen.

 

In Bezug auf das (Mit-)Verschulden eines Fahrschülers hat der OGH zu § 114 Abs 4 KFG 1967 und dessen Vorgängerbestimmung des § 101 Abs 3 KFG 1955 schon mehrfach allgemein ausgesprochen, dass die zivilrechtliche Haftung für einen bei einer Übungsfahrt verursachten Unfall grundsätzlich den Lehrenden trifft und der Fahrschüler selbst nur insoweit verantwortlich ist, als er durch den bereits genossenen Fahrunterricht oder aufgrund allgemeiner Erfahrung die Gefährlichkeit seines Fahrverhaltens einzusehen vermochte und sich fahrtechnisch und rechtlich richtig verhalten konnte.

 

Dementsprechend wurde jüngst in der E 2 Ob 124/19b bei einem Unfall auf dem Übungsgelände einer Fahrschule die Abweisung des Klagebegehrens eines Fahrschülers in einem Fall, in dem der Fahrlehrer seinen Schülern erklärt hatte, dass man Voll- und Gefahrenbremsungen vermeiden solle, weil sie zum Sturz führen würden und der Kläger dennoch grundlos, überraschend und bewusst eine Vollbremsung durchführte, gebilligt.

 

Dagegen wurde in der E 2 Ob 50/04y, im Fall einer gänzlich unerfahrenen Motorradfahrschülerin darauf hingewiesen, dass ein Fahrlehrer dem Fahrschüler keine Aufgaben stellen darf, denen dieser nach Ausbildung und Fahrfertigkeit nicht gewachsen ist. Er hat den Fahrschüler nach Möglichkeit vor Schaden zu bewahren und die Pflicht, ihn im Auge zu behalten, dessen Fahrweise sorgfältig zu überwachen und gegebenenfalls einzugreifen. Da der Fahrlehrer bei der Motorradausbildung den Schüler nicht im selben Fahrzeug begleiten kann, besteht eine Verpflichtung zu erhöhter Sorgfalt bei der Überwachung des Schülers.

 

Die Grundsätze dieser Rsp sind auf die hier zu beurteilende Prüfungssituation übertragbar:

 

Der Klägerin musste aufgrund ihrer bis auf die praktische Prüfung abgeschlossenen Ausbildung die höhere Gefährlichkeit der Ablegung der Prüfung unter den gegebenen Umständen klar sein, wurde ihr doch im Rahmen der theoretischen Ausbildung vermittelt, dass mit einem Motorrad ohne ABS bei einer stärkeren Bremsung erhöhte Sturzgefahr besteht und man für die richtige Bremstechnik sehr viel Übung braucht. Obwohl sie mit Ausnahme einer kurzen Ausfahrt keine praktischen Erfahrungen mit dem Prüfungsmotorrad hatte und auch während des kurzen Einfahrens keine speziellen Bremsübungen mehr durchführen konnte, beharrte sie darauf, die Prüfung „unbedingt an diesem Tag“ zu absolvieren. Selbst nach dem dreimaligen Scheitern an der Gefahrenbremsung versuchte sie, den an sich vorgesehenen Prüfungsabbruch aktiv und aus Eigenem abzuwenden und setzte aus eigener Initiative die Einräumung eines vierten Versuchs beim Prüfer durch. Dieses uneinsichtige Verhalten ist der Klägerin als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten anzurechnen.

 

Die damit erforderliche Abwägung des beiderseitigen Fehlverhaltens führt jedoch entgegen der Meinung des Berufungsgerichts zu einem deutlich überwiegenden Verschulden des Fahrlehrers, der den Fahrschüler nach Möglichkeit vor Schaden zu bewahren hat. Zwar kann das uneinsichtige Verhalten der Klägerin nicht gänzlich vernachlässigt werden. Der Senat erachtet aber in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Einzelfalls lediglich ein Mitverschulden von einem Viertel für angemessen.