11.06.2018 Zivilrecht

OGH: Haftung nach dem EKHG iZm U-Bahn – Mitverschulden, Torkeln, Reaktion

Nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen hätte der U-Bahnfahrer dem Kläger eine unfallvermeidende Reaktion ermöglichen können, hätte er binnen 0,3 sek nach Ende der Reaktionszeit ein akustisches Warnsignal abgesetzt; die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass den beklagten Parteien unter diesen Umständen der Beweis eines unabwendbaren Ereignisses nicht gelungen sei, hält sich im Rahmen der Rsp; in der Rsp des OGH ist bei der nach § 7 EKHG iVm § 1304 ABGB vorzunehmenden Abwägung anerkannt, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr selbst dann zu einer Haftung des Halters oder Betriebsunternehmers führen kann, wenn den Geschädigten ein Verschulden trifft; richtig ist zwar, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr gegenüber einem besonders krassen Verschulden des Unfallgegners auch zur Gänze in den Hintergrund treten kann; das Berufungsgericht hat hier aber mit dem Hinweis auf die große Masse der U-Bahn und deren Unmöglichkeit, einem Hindernis auszuweichen, ausdrücklich begründet, warum es bei der Schadensteilung die Betriebsgefahr trotz des gravierenden Fehlverhaltens des Klägers mit einem Fünftel veranschlagt hat


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Gefährdungshaftung, U-Bahn, Torkeln, Mitverschulden, Reaktion
Gesetze:

 

§ 7 EKHG, § 9 EKHG, § 1304 ABGB

 

 

GZ 2 Ob 135/17t, 22.03.2018

 

OGH: Der Frage, wie bei der nach § 7 EKHG iVm § 1304 ABGB vorzunehmenden Schadensteilung das Mitverschulden des Klägers gegenüber der von der U-Bahn ausgehenden Betriebsgefahr zu gewichten ist, kommt keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu. Dem Berufungsgericht ist keine gravierende, vom OGH iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen, wenn es angesichts des besonders schwerwiegenden Fehlverhaltens des Klägers dessen Eigenverschulden mit einer Quote von vier Fünfteln angesetzt hat.

 

An dieser Beurteilung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die auf dem Bahnsteig des denkmalgeschützten Stationsgebäudes vorhandene Säulenreihe für einen in die Station einfahrenden U-Bahnfahrer eine „gewisse Sichtbehinderung“ auf die sich im Nahbereich der Säulen aufhaltenden Personen mit sich bringt, während die Personen, die sich vor der Säulenreihe befinden, „voll sichtbar“ und jene nahe der Rückwand des Bahnsteigs „deutlich wahrnehmbar“ sind. Der Versuch des Klägers, aus dieser baulichen Gestaltung der Station weitere Zurechnungsgründe auf Seiten der beklagten Parteien abzuleiten, die die von ihm angestrebte Schadensteilung rechtfertigen könnten, ist vor den Vorinstanzen gescheitert. Dieses Ergebnis ist jedenfalls vertretbar:

 

Der Kläger lässt die Rechtsansicht der Vorinstanzen unwidersprochen, dass er sich nicht auf die Haftung aus einem Beförderungsvertrag stützen kann.

 

Voraussetzung für die Annahme einer Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht ist das bei gehöriger Sorgfalt mögliche Erkennen einer Gefahrenlage. Diese Sorgfaltspflicht darf allerdings nicht überspannt werden. Die Grenzen des Zumutbaren sind zu beachten. Im Einzelfall kommt es auf die Wahrscheinlichkeit der Schädigung an.

 

Der Kläger hat in erster Instanz nicht behauptet, geschweige denn den Beweis erbracht, dass die durch die Säulenreihe bedingte Sichtbeeinträchtigung in der Station Stadtpark in der Vergangenheit jemals für einen vergleichbaren Unfall ursächlich gewesen wäre. Die Rüge der Unterlassung von „Abwehrmaßnahmen“, wie die Schaffung von Glastrennwänden oder Bahnsteigtüren, wirft im Lichte obiger Rsp daher keine erhebliche Rechtsfrage auf.

 

In Ermangelung eines „besonderen“, zum Betrieb der Bahn hinzutretenden Gefahrenmoments ist auch eine außergewöhnliche Betriebsgefahr nicht begründbar. Dasselbe gilt für die Berücksichtigung der Säulenreihe als „gefahrenerhöhendes Element“.

 

Schließlich ist aus den bisher vom OGH beurteilten Unfällen mit Beteiligung einer U-Bahn (2 Ob 262/06b und 2 Ob 265/06v) eine für den Kläger günstigere Schadensteilung nicht zu gewinnen, betraf die erste Entscheidung doch einen gänzlich anders gelagerten Fall [Fehltritt beim Aussteigen], während in letzterer [Fehltritt beim Einsteigen] die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben worden sind.

 

Der OGH vertritt in stRsp die Rechtsansicht, dass unter der sog „Reaktionszeit“ die Zeitspanne zwischen dem Erfassen der Verkehrslage und der Ausführung der entsprechenden Maßnahmen durch die Betätigung der in Betracht kommenden Einrichtungen zu verstehen ist. Mit dem „Erfassen der Verkehrslage“ ist, wie der OGH ebenfalls bereits klargestellt hat, die Gefahrenerkennung, also die objektive Reaktionsaufforderung gemeint. Es kann auch zutreffen, dass in bestimmten Situationen die Gefährlichkeit eines Verhaltens erst nach einer gewissen Zeit der Beobachtung erkannt werden kann. Ob dies im Einzelfall anzunehmen ist, betrifft jedoch den Tatsachenbereich und ist keine Frage der rechtlichen Beurteilung.

 

Das Erstgericht hat dem U-Bahnfahrer zusätzlich zur Reaktionszeit eine vorgeschaltete „Gefahrenerkennungszeit“ von 0,5 sek ab dem (vollen) Sichtbarwerden des Klägers zugebilligt, die es mit dem Hinweis auf das vom Kläger vorgelegte Privatgutachten begründete. Dabei handelt es sich um eine – wenngleich disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung getroffene – Tatsachenfeststellung, an die der OGH gebunden ist. Die Auslegung dieser Feststellung durch das Berufungsgericht, der U-Bahnfahrer hätte spätestens nach Ablauf der genannten Zeitspanne das Torkeln des Klägers (die Gefahr) erkennen können (objektive Reaktionsaufforderung), steht mit der erörterten Rsp im Einklang.

 

Die nach § 9 Abs 2 EKHG gebotene äußerste Sorgfalt erfordert auch die Einhaltung jener besonderen Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht, die die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet. Bleibt ungeklärt, ob ein nach § 9 EKHG zu berücksichtigender Umstand für die Entstehung des Unfalls ursächlich war, so geht dies zu Lasten des Halters bzw (hier) der Betriebsunternehmerin der Eisenbahn. Der OGH hatte auch schon mehrfach Fälle zu beurteilen, in denen die um Sekundenbruchteile verspätete, zur Begründung eines Verschuldens nicht ausreichende Reaktion eines Fahrzeuglenkers auf einen sich verkehrswidrig verhaltenden Fußgänger das Gelingen des Entlastungsbeweises gem § 9 Abs 2 EKHG hinderte (vgl 2 Ob 44/06v mwN [um 0,3 sek verspätete Reaktion]).

 

Nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen hätte der U-Bahnfahrer dem Kläger eine unfallvermeidende Reaktion ermöglichen können, hätte er binnen 0,3 sek nach Ende der Reaktionszeit ein akustisches Warnsignal abgesetzt. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass den beklagten Parteien unter diesen Umständen der Beweis eines unabwendbaren Ereignisses nicht gelungen sei, hält sich im Rahmen der erörterten Rsp.

 

In der Rsp des OGH ist bei der nach § 7 EKHG iVm § 1304 ABGB vorzunehmenden Abwägung anerkannt, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr selbst dann zu einer Haftung des Halters oder Betriebsunternehmers führen kann, wenn den Geschädigten ein Verschulden trifft.

 

Richtig ist zwar, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr gegenüber einem besonders krassen Verschulden des Unfallgegners auch zur Gänze in den Hintergrund treten kann. Das Berufungsgericht hat hier aber mit dem Hinweis auf die große Masse der U-Bahn und deren Unmöglichkeit, einem Hindernis auszuweichen, ausdrücklich begründet, warum es bei der Schadensteilung die Betriebsgefahr trotz des gravierenden Fehlverhaltens des Klägers mit einem Fünftel veranschlagt hat. Die beklagten Parteien gehen in ihrem Rechtsmittel auf diese Rechtsansicht mit keinem Wort ein, weshalb für den OGH kein Anlass zu ihrer Überprüfung besteht.