05.04.2003 Gesetzgebung

Regierungsvorlage zur Strafprozessreform 2003


Durch die Regierungsvorlage soll vor allem das Vorverfahren neu geregelt und die Aufgaben der Kriminalpolizei sowie die Rechte der Beteiligten (vor allem auch der Opfer!) in dieser Phase endlich auf ein eindeutiges rechtliches Fundament gestellt werden. Es wird daher eine eigenständige Ermittlungskompetenz der Kriminalpolizei, Koordinations- und Leitungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft und eine stärkere Kontrolle durch die Gerichte vorgeschlagen. Sie gliedert, wie bereits nach dem Ministerialentwurf, die geltende Strafprozessordnung in sechs Teile:

1. Teil: Allgemeines und Grundsätze des Verfahrens

Hier finden sich die für das gesamte Strafverfahren geltenden Grundsätze ebenso wie auch die Regeln über Organisation und Rechtsstellung der am Verfahren beteiligten Behörden und Gerichte, deren Verhältnis zueinander und zu anderen öffentlichen Behörden und Dienststellen sowie zu privaten Personen, über die Rechte der Beteiligten des Verfahrens (das sind Beschuldigte, Geschädigte und Haftungsbeteiligte), über die Befugnis der Behörden und Gerichte zur Datenverwendung, über die Art und Weise der Bekanntmachung und Zustellung von Erledigungen sowie über den Vollzug der nach diesem Bundesgesetz verhängten Geld- und Freiheitsstrafen (im Stand des Ermittlungsverfahrens handelt es sich hierbei um Ordnungs- und Beugestrafen).

2. Teil: Ermittlungsverfahren

Hier wird das eigentliche Kernstück der Novellierung geregelt. Dieser Teil enthält Bestimmungen über Zweck des Ermittlungsverfahrens, die Anwendung von Zwangsgewalt und Beugemittel, Verhängung von Ordnungsstrafen sowie Art und Weise der Protokollierung.

Das Ermittlungsverfahren soll von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft gemeinsam geführt werden. Die Ermittlungs- und Zwangsmassnahmen sowie Beugemittel werden genau bezeichnet und die Ausübungsrechte an ihnen genau determiniert - es gibt keine kriminalistischen Anweisungen. Die gerichtliche Voruntersuchung soll entfallen. Dafür soll das Gericht (als Einzelrichter) Eingriffe in Grundrechte auf ihre Berechtigung überprüfen, Rechtsschutz gegen die Verweigerung von Verfahrensrechen garantieren und bereits im Ermittlungsverfahren Beweise aufnehmen, die im Stadium des Hauptverfahrens nicht mehr (in gleicher Qualität) zu erlangen wären.

Das Gericht soll im Ermittlungsverfahren nur über Antrag oder Beschwerde tätig werden - als zweite Instanz ist das OLG vorgesehen. Dieses soll auch über die Fortsetzung des Verfahrens entscheiden (die Ratskammer soll es künftig nicht mehr geben!).

Genau geregelt werden die Voraussetzungen, unter denen ein im Vorverfahren erlangtes Beweismittel im Hauptverfahren verwendet werden darf (Verwertungsverbote). Weitere Regelungsbereiche sind:

Ermittlungsmaßnahmen und Beweisaufnahme (8. Hauptstück) und Fahndung, Festnahme und Untersuchungshaft (9. Hauptstück)

Hier sollen die Rechte und Pflichten, die der Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfolgung von Straftaten zur Verfügung stehen, abschließend geregelt werden. Im folgenden ist der Begriff der Beweisaufnahme nicht auf die erkennende Tätigkeit der Gerichte beschränkt - dieses hat allerdings in vielen Fällen Kontrollfunktion. In diesem Hauptstück müssen die Grundsätze der Zweckmäßigkeit und Effektivität den verfassungsrechtlich garantierten Rechten, wie sie vor allem in der EMRK festgeschrieben sind, zueinander abgewogen werden. Daher müssen den entsprechenden Anordnungen und Bewilligungen Rechtsmittel gegenübergestellt werden.

Hier geht es um die Regelung folgender Zwangs- und Beweismittel:

- Sicherstellung, Beschlagnahme und Auskunft über Bankkonten und über Bankgeschäfte (an dieser Stelle wollen wir auch auf den unlängst besprochenen Entwurf zur Änderung des BWG verweisen),- Identitätsfeststellung, Durchsuchung von Orten und von Gegenständen, Durchsuchung von Personen, körperliche Untersuchung und molekulargenetische Untersuchung,- Sachverständige und Dolmetscher,- Leichenbeschau und Obduktion,- Observation, verdeckte Ermittlung und Scheingeschäft,- Überwachung von Nachrichten und Personen,- Automationsunterstützter Datenabgleich,- Augenschein und Tatrekonstruktion,- Erkundigungen und Vernehmungen,- Fahndung, Festnahme und Untersuchungshaft,- Vollzug der Untersuchungshaft.

- Anordnungen und Bewilligungen

Bei der Regelung der Zuständigkeit wurde darauf abgestellt, wie hoch die Intensität des bewilligten Grundrechtseingriffs und wie hoch das daraus resultierende Rechtsschutzbedürfnis ist (wie genau das unterschieden werden soll, bleibt abzuwarten). Je nachdem gibt es drei Möglichkeiten:

- Eigenmächtiges Tätigwerden der Kriminalpolizei- Einholung einer Anordnung der Staatsanwaltschaft- Einholen einer gerichtlichen Bewilligung (dies ist immer dort vorgesehen, wo es verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist also z.B.: bei Hausdurchsuchungen, Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis, bei Eingriffen in das Privatleben sowie Entzug der persönlichen Freiheit). Im Unterschied zum geltenden Recht soll dies nicht durch einen "Befehl" an die Kriminalpolizei geschehen, sondern durch die Bewilligung bzw. Abweisung eines Antrags der Staatsanwaltschaft. Gerichtliche Bewilligungen sind daher regelmäßig Ermächtigungen an die Staatsanwaltschaft, eine bestimmte Anordnung zu erlassen.

Der Kriminalpolizei (darunter fallen auch Polizei und Gendarmerie) wird ein erweitertes Instrumentarium zur Verbrechensaufklärung an die Hand gegeben. Dies geschieht insbesondere durch die Regelungen kriminalpolizeilichen Vorgehens bei Gefahr im Verzug. Neu ist allerdings, dass dieses Einschreiten der gerichtlichen Kontrolle unterliegt !!!

Neu systematisiert werden unter dem Thema der Zeugenvernehmung die Zeugnisverweigerungsrechte.

Der Schutz des Beichtgeheimnisses und anderer Berufsgeheimnisse soll neuerdings besonders hervorgehoben werden.

3. Teil: Beendigung des Ermittlungsverfahrens

Hier werden jene Entscheidungen der Staatsanwaltschaft geregelt, die das Ermittlungsverfahren - endgültig oder bloß vorläufig - beenden, ohne es in ein Hauptverfahren überzuleiten. Folgende Endigungsarten kommen in Betracht:

- Einstellung (zur Zt. § 90 StPO)- Einstellung wegen Geringfügigkeit (sinngemäß § 42 StGB - der materielle Strafausschließungsgrund wird in die formale Ermächtigung der Staatsanwaltschaft auf Verfolgungsverzicht umgewandelt)- Einstellung bei mehreren strafbaren Handlungen (zur Zt. § 34 StPO) - Abbrechung des Ermittlungsverfahren gegen Abwesende und gegen unbekannte Täter (zur Zt. § 412 StPO) sowie - Rücktritt von der Verfolgung (Diversion).

Außerdem werden hier auch die Voraussetzungen geregelt, unter denen ein von der Staatsanwaltschaft eingestelltes Ermittlungsverfahren fortgeführt werden kann.

Das Recht der Subsidiaranklage wurde im Verhältnis zum Ministerialentwurf weiterentwickelt. Nunmehr soll das Oberlandesgericht über einen allfälligen Antrag auf Fortführung des Verfahrens entscheiden.

4. Teil: Haupt- und Rechtsmittelverfahren

Hier wird vor allem die Anklage neu geregelt, mit der das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren in ein gerichtliches Verfahren übergleitet wird. Ansonsten sollen hier im wesentlichen die Bestimmungen des XVII. (Von den Vorbereitungen zur Hauptverhandlung) und des XVIII. Hauptstückes (Von den Hauptverhandlungen vor den Gerichtshöfen erster Instanz und den Rechtsmitteln gegen deren Urteile) der StPO einfließen, nachdem sie in einem weiteren Reformschritt entsprechend angepasst wurden.

5. Teil: besondere Verfahrensarten

Hier werden die Hauptstücke XIX. bis XXX., deren Bestimmungen anzugleichen sein werden, zusammengefasst.

6. Teil: Schlussbestimmungen

Hier finden sich erwartungsgemäß die Regelungen über In-Kraft-Treten (geplant ist der 1. Juli 2006), Übergangsbestimmungen, Verweisungen und die Vollzugsklausel.

Zusammenfassung der wesentlichen Neuerungen:

a) Rechte des Beschuldigten

Nach dem materiellen Beschuldigtenbegriff ist derjenige Beschuldigter, der aufgrund bestimmter Tatsachen konkret verdächtig ist, eine strafbare Handlung begangen zu haben oder an ihr beteiligt zu sein, sobald gegen ihn ermittelt oder Zwang zur Aufklärung des Verdachts ausgeübt wird. Die Beschuldigtenrechte stehen dem Verdächtigen ab dem ersten Ermittlungsschritt zu und sind im wesentlichen folgende:

- Information über den Inhalt der Beschuldigung und die wesentlichen Rechte im Verfahren,- Akteneinsicht, in alle Akte der Kriminalpolizei bzw. der Staatsanwaltschaft,- Beweisantragsrecht,- Recht auf Übersetzungshilfe,- freie Verteidigerwahl und Anspruch auf Verfahrenshilfe,- das Recht zu schweigen und vor der Vernehmung mit einem Verteidiger Kontakt aufzunehmen und sich mit ihm zu besprechen sowie eine Vertrauensperson beizuziehen,- Einspruchsrecht wegen Verletzung eines subjektiven Rechts durch die Verweigerung von Verfahrensrechten oder die rechtswidrige Anordnung oder Durchführung von Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen,- Beschwerderecht gegen gerichtliche Beschlüsse,- Antragsrecht auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens,- Beteiligungs- und Anwesenheitsrechte.

Dadurch soll insbesondere dem Recht auf ein faires Verfahren und dem Recht auf Verteidigung auf einfachgesetzlicher Ebene genüge getan werden (s. Art 6 Abs. 1 und 3 EMRK).

b) Geschädigte und ihre Rechte

Die Rolle des Opfers einer Straftat (an die Stelle dieses Begriffs tritt der allgemeinere des "Geschädigten") ist eine der meist kritisierten in der geltenden Rechtsordnung. Der de facto am stärksten Betroffene hat nicht einmal die üblichen Parteirechte. Dieser unbefriedigende Zustand soll durch die nachstehenden Änderungen beendet werden (Achtung: die Regelungen über die Privatbeteiligung wurden abweichend zum Ministerialentwurf neu geregelt!):

- Geschädigte werden durch Erklärung zu Privatbeteiligten mit umfassenden prozessualen Rechten,- Emotional besonders betroffene Geschädigte sollen sich unabhängig von privatrechtlichen Ansprüchen als Privatbeteiligte am Strafverfahren beteiligen können. Wollen sie zusätzlich privatrechtliche Ansprüche geltend machen, so haben sie ein Recht auf Verfahrenshilfe durch Beigebung eines Vertreters. Als solche gelten gem. § 65 Z 1 lit. a und b jene, die durch eine vorsätzlich begangene strafbare Handlung Qualen erlitten haben oder schwer am Körper verletzt oder in ihrer sexuellen Integrität beeinträchtigt worden sein könnten sowie jene Ehegatten, Eltern und Kinder einer Person, deren Tod durch eine strafbare Handlung herbeigeführt worden sein könnte.- Privatbeteiligte, die einen privatrechtlichen Anspruch erheben, können eine von der Staatsanwaltschaft zurückgezogene Anklage durch Erklärung als Subsidiarankläger aufrecht halten,- Geschädigte haben ein Antragsrecht die Fortführung eines von der Staatsanwaltschaft eingestellten Verfahrens (Korrektiv zum Wegfall der Subsidiaranklage nach geltendem Recht)- Stellt das Gericht des Ermittlungsverfahrens ein, soll dem Privatbeteiligten ein Beschwerderecht an das Oberlandesgericht zustehen, - dem Privatbeteiligten soll ein Beweisantragsrecht bekommen sowie das Recht auf Teilnahme an kontradiktorischen Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten, an Befundaufnahmen und an Tatrekonstruktionen,- Geschädigte sind künftig über ihre Rechte zu belehren. Sie sollen einen Antrag stellen können, von der Entlassung des Beschuldigten aus der Haft und in anderen Fällen vom Fortgang des Verfahrens verständigt zu werden. Auch sollen Geschädigte bei Gericht die Fortführung eines durch die Staatsanwaltschaft eingestellten Verfahrens verlangen können,- Das Privatanklageverfahren wird beibehalten, jedoch wegen des Entfalls der gerichtlichen Voruntersuchung umgestaltet. Als Privatankläger wird jede Person bezeichnet, die bei Gericht eine Anklage oder einen anderen Antrag auf Einleitung des Hauptverfahrens wegen eines Privatanklagedelikts einbringt.

c) weiterer wichtiger Inhalt:

- Ausbau der Beweisverwertungsverbote (z.B.: bei Umgehung oder Verweigerung der Verteidigungsrechte) und Vernichtungsgebote. Damit soll dem Ziel der Schaffung zuverlässiger Beweise für die Hauptverhandlung Rechnung getragen werden. Ohne diese Regelungen würden die verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte und die gerichtlichen Kontrollrechte ad absurdum geführt. Dafür sollen Verwertungsverbote bei Erkundigungen und versteckten Ermittlungen nicht mehr so strikt wie im Begutachtungsentwurf bestehen bleiben.

- Generelle Zuständigkeit des Landesgerichts im Ermittlungsverfahren, unabhängig von der sachlichen Zuständigkeit im Hauptverfahren (diese wird erst mit der Anklageerhebung festgestellt)

- Wegfall des "Zwischenverfahrens": mit Einbringen der Anklage beim Gericht des Hauptverfahrens durch die Staatsanwaltschaft wird das Ermittlungsverfahren in das Hauptverfahren übergeleitet. Die Staatsanwaltschaft verliert ihre Rolle als verfahrensführende Behörde und wird zur Beteiligten des Hauptverfahrens, dessen Leitung dem Gericht obliegt.

- der gerichtliche Rechtsschutz gegen die Anklage bleibt wegen der Publizität erhalten. Die Einspruchsgründe werden konkretisiert. Eine Zurückweisung der Anklage durch das Oberlandesgericht im Einspruchsverfahren soll zur Wiedereröffnung des Ermittlungsverfahrens führen.

- das Landesgericht soll das Oberlandesgericht auch ohne Einspruchserhebung nach Einbringen der Anklage mit der Entscheidung über seine Zuständigkeit befassen können, wenn es entsprechende Bedenken hat.

- das Gericht soll die Rechtswirksamkeit der Anklage formell feststellen. Damit soll die perpetuatio fori eintreten und die Hauptverhandlung ohne Verzug angeordnet werden.

- im 3. Teil soll terminologisch zwischen der Beendigung des Ermittlungsverfahrens, seiner Einstellung und dem Rücktritt von der Verfolgung (Diversion) unterschieden werden. Ersteres umfasst alle Beendigungsarten. Neu aufgenommen werden sollen in den 3. Teil die Fälle und Bedingungen der Fortführung eines durch die Staatsanwaltschaft eingestellten Ermittlungsverfahrens. Hier wird die Regelung der formlosen Wiederaufnahme gem. § 363 StPO entsprechend angepasst.