02.06.2011 Wirtschaftsrecht

OGH: Fallgruppe „Wettbewerbsvorsprung durch Rechtsbruch“ - zur Frage, ob die Ansicht, dass Rechtsschutzversicherer ihre Versicherungsnehmer in außergerichtlicher Korrespondenz vertreten dürfen, aus lauterkeitsrechtlicher Sicht vertretbar ist

Die Ansicht, dass sich aus § 158j Abs 1 VersVG die Berechtigung von Rechtsschutzversicherern ergibt, ungeachtet § 8 Abs 1 und 2 RAO im Namen ihrer Versicherungsnehmer außerhalb gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Verfahren Aufforderungs- oder Abwehrschreiben an Dritte zu richten, ist aus lauterkeitsrechtlicher Sicht vertretbar


Schlagworte: Wettbewerbsrecht, unlautere Geschäftspraktiken, Wettbewerbsvorsprung durch Rechtsbruch, Vertretbarkeit einer Rechtsansicht, Vertretungsbefugnis von Rechtsschutzversicherern, außerhalb gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Verfahren, Aufforderungs- oder Abwehrschreiben an Dritte
Gesetze:

§ 1 Abs 1 Z 1 UWG, § 8 RAO, § 158j Abs 1 VersVG

GZ 4 Ob 57/11b, 10.05.2011

 

Die klagende Rechtsanwaltskammer ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Ihr obliegt ua die Wahrung der Rechte des Rechtsanwaltsstands (§ 23 RAO). Die Beklagte betreibt eine Rechtsschutzversicherung. In Art 8 ihrer Versicherungsbedingungen ist ua vorgesehen, dass der Versicherungsnehmer

 

„bei der Geltendmachung oder Abwehr von zivilrechtlichen Ansprüchen […] dem Versicherer vorerst die Möglichkeit einzuräumen [hat], Ansprüche selbst innerhalb angemessener Frist außergerichtlich durchzusetzen oder abzuwehren.“

 

Die Beklagte leitet daraus ein „Selbstregulierungsrecht“ ab. Auf dieser Grundlage richtet sie „im Namen“ ihrer Versicherungsnehmer Schreiben an Dritte, in denen sie zivilrechtliche Ansprüche geltend macht oder das Bestehen solcher Ansprüche der Gegenseite bestreitet. Ähnliche Bestimmungen sind in Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung seit langem üblich; sie finden sich auch in den aktuellen Bedingungen der Mitbewerber und in den Musterbedingungen des Versicherungsverbands.

 

OGH: Das Rekursgericht hat die Rsp zur Fallgruppe „Wettbewerbsvorsprung durch Rechtsbruch“ richtig wiedergegeben. Danach ist ein Verstoß gegen eine nicht dem Lauterkeitsrecht im engeren Sinne zuzuordnende generelle Norm als unlautere Geschäftspraktik oder als sonstige unlautere Handlung iSv § 1 Abs 1 Z 1 UWG zu werten, wenn die Norm nicht auch mit guten Gründen in einer Weise ausgelegt werden kann, dass sie dem beanstandeten Verhalten nicht entgegensteht. Der Unterlassungsanspruch setzt ferner voraus, dass das beanstandete Verhalten geeignet ist, den Wettbewerb zum Nachteil von rechtstreuen Mitbewerbern nicht bloß unerheblich zu beeinflussen. Maßgebend für die Beurteilung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung sind der eindeutige Wortlaut und Zweck der angeblich übertretenen Norm sowie gegebenenfalls die Rsp der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts und eine beständige Praxis von Verwaltungsbehörden. Im vorliegenden Verfahren ist daher nur die Vertretbarkeit, nicht die Richtigkeit der von der Beklagten vertretenen Rechtsansicht zu prüfen.

 

Die Klägerin stützt sich auf einen unzulässigen Eingriff der Beklagten in den Vertretungsvorbehalt der Rechtsanwälte iSv § 8 Abs 1 und 2 RAO.

 

Richtig ist, dass die umfassende berufsmäßige Parteienvertretung nach § 8 Abs 2 RAO den Rechtsanwälten vorbehalten ist. Davon „jedenfalls unberührt“ bleiben aber nach § 8 Abs 3 RAO ua die „in sonstigen Bestimmungen des österreichischen Rechts eingeräumten Befugnisse von Personen oder Personenvereinigungen zur sachlich begrenzten Parteienvertretung“ und die „in sonstigen Bestimmungen des österreichischen Rechts eingeräumten Befugnisse, die in den Berechtigungsumfang von reglementierten oder konzessionierten Gewerben fallen“. Der letztgenannten Bestimmung ist zu entnehmen, dass es kein umfassendes Monopol der Rechtsanwälte zur berufsmäßigen Parteienvertretung gibt. Vielmehr kommt darin ein allgemeiner Grundsatz zum Ausdruck: Die Besonderheiten bestimmter Unternehmenszweige - ausdrücklich genannt sind Gewerbe - können es rechtfertigen, dass auch anderen Berufsgruppen mittels genereller Norm eine (Annex-)Befugnis zur Parteienvertretung eingeräumt wird.

 

Die in § 8 Abs 3 RAO genannten Befugnisse bleiben „jedenfalls“ unberührt. Schon daraus ergibt sich, dass diese Bestimmung nur demonstrativen Charakter hat. Dem Gesetzgeber steht es (selbstverständlich) frei, auch außerhalb des Gewerberechts Befugnisse zur Parteienvertretung vorzusehen, die iZm der Geschäftstätigkeit der betroffenen Unternehmen stehen, ohne dabei unbedingt „sachlich“ - also in Bezug auf die betroffenen Rechtsmaterien - beschränkt zu sein. Der mit dem BRÄG 2008 in § 8 Abs 3 RAO aufgenommene Hinweis auf eine „sachliche“ Begrenzung von gesetzlich eingeräumten Befugnissen, der in den Gesetzesmaterialien nicht weiter begründet wird, hat daher, anders als in der Revision angenommen, für die Beurteilung der Befugnisse der Beklagten keine entscheidende Bedeutung.

 

Die Beklagte stützt sich auf § 158j Abs 1 VersVG.

 

Die Klägerin zeigt an sich zutreffend auf, dass § 158j Abs 1 VersVG eine Vertretungsbefugnis von Rechtsschutzversicherern nicht ausdrücklich vorsieht. Allerdings wird ihr Tätigkeitsbereich umschrieben: Der Rechtsschutzversicherer sorgt für die Wahrnehmung der Interessen des Versicherungsnehmers und trägt die diesem dabei entstehenden Kosten. Aus dieser Formulierung kann in vertretbarer Weise abgeleitet werden, dass der Rechtsschutzversicherer typischerweise auch Naturalleistungen zu erbringen hat; wäre es anders, hätte der Hinweis auf das Tragen der Kosten genügt. Solche Naturalleistungen können jedenfalls nur vor oder außerhalb gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Verfahren in Betracht kommen, da der Rechtsschutzversicherer innerhalb solcher Verfahren nach § 158k Abs 1 VersVG jedenfalls freie Anwaltswahl zu gewähren hat. Dieses Recht auf freie Anwaltswahl setzt logisch zwingend voraus, dass überhaupt ein Anspruch auf Beigabe eines Anwalts besteht. Naturalleistungen können insofern daher nicht mehr erbracht werden.

 

Die Klägerin bestreitet nicht, dass Rechtsschutzversicherer auch Naturalleistungen erbringen dürfen, vertritt aber die Auffassung, diese seien auf die Beratung des Versicherungsnehmers beschränkt; Vertretungshandlungen nach außen seien demgegenüber auch außerhalb anhängiger Verfahren Rechtsanwälten vorbehalten. Das ist zwar eine mögliche Auslegung. Sie ist aber inkonsequent, weil aus § 8 Abs 1 und 2 RAO auch ein Beratungsmonopol abgeleitet wird. Eine Differenzierung zwischen Beratung und außergerichtlicher Vertretung ist in § 158j Abs 1 VersVG aber nicht erkennbar. Damit liegt nahe, dass die dort (nach vertretbarer Rechtsansicht) angesprochenen Naturalleistungen neben der Beratung auch die außergerichtliche Vertretung erfassen. So verstanden billigte der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung - wenngleich nicht mit der wünschenswerten Klarheit - eine offenkundig schon zuvor bestehende Praxis, die von allen Beteiligten als rechtens angesehen worden war. Diese Praxis steht im Einklang mit der in den Materialien ausdrücklich erwähnten Aufgabe des Rechtsschutzversicherers, auch streitschlichtend (streitvermeidend) zu wirken. Das ist durch (erste) Mahn- oder Abwehrschreiben, die der Versicherer selbst verfasst, besser gewährleistet als durch das sofortige Einschreiten eines Anwalts, das die Gegenseite in vielen Fällen als weitere - möglicherweise auch mit erhöhten Kosten verbundene - Eskalation des Streits verstehen wird.

 

Wenn Naturalleistungen aufgrund § 158j Abs 1 VersVG als zulässig angesehen werden, dann kann in vertretbarer Weise angenommen werden, dass davon auch die außergerichtliche Vertretung der Versicherungsnehmer erfasst ist.

 

Es ist richtig, dass die Mitarbeiter der Beklagten nicht zwingend jene Ausbildung genossen haben, die bei Rechtsanwälten die Qualität der Beratung und Vertretung sichern soll. Eine solche Ausbildung fehlt aber auch in den in § 8 Abs 3 RAO ausdrücklich genannten Fällen. Der Gesetzgeber hält es daher grundsätzlich für möglich, dass die Vorteile einer Beratung oder Vertretung durch Nichtanwälte - etwa geringere Kosten - den Nachteil einer möglicherweise schlechteren Ausbildung aufwiegen. Gleiches gilt für Verschwiegenheitspflichten und Aussageverweigerungsrechte, die bei der Vertretung, aber auch bei der (bloßen) Beratung durch einen Rechtsschutzversicherer tatsächlich nicht in gleicher Weise gewährleistet sind wie bei Inanspruchnahme eines Anwalts.

 

Haftungsrechtlich ist demgegenüber kein Unterschied zu erkennen. Sollten außergerichtliche Vertretungshandlungen oder eine Beratung durch den Versicherer tatsächlich zu Nachteilen für den Versicherungsnehmer führen, etwa weil der Gegner eine (berechtigte) negative Feststellungsklage erhebt oder weil eine Verjährungs- oder Fallfrist übersehen wird, wäre die Haftung des Versicherers ebenso wie jene eines Anwalts nach dem strengen Maßstab des § 1299 ABGB zu beurteilen.

 

Die dem beanstandeten Verhalten zugrundeliegende Rechtsansicht der Beklagten ist daher vertretbar. Ob sie auch richtig ist, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.