26.10.2011 Wirtschaftsrecht

VwGH: Betriebsanlagengenehmigung gem § 77 GewO

Sachverständigengutachten aus den Jahren 1999 bzw 2002 können für die Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit einer Betriebsanlage im Jahre 2011 keine taugliche Grundlage bilden


Schlagworte: Gewerberecht, Betriebsanlage, Genehmigung, gewerbetechnische / ärztliche Sachverständige, Gutachten, Gefährdungen, Stand der Technik, Wissenschaften
Gesetze:

§ 77 GewO, § 74 GewO, § 52 AVG

GZ 2011/04/0117, 28.09.2011

 

VwGH: Die Feststellung, ob die Genehmigungsvoraussetzungen des § 77 GewO vorliegen, ist Gegenstand des Beweises durch Sachverständige auf dem Gebiet der gewerblichen Technik und auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Den Sachverständigen obliegt es, auf Grund ihres Fachwissens ein Urteil (Gutachten) über diese Fragen abzugeben. Der gewerbetechnische Sachverständige hat sich darüber zu äußern, welcher Art die von einer Betriebsanlage nach dem Projekt des Genehmigungswerbers zu erwartenden Einflüsse auf die Nachbarschaft sind, welche Einrichtungen der Betriebsanlage als Quellen solcher Immissionen in Betracht kommen, ob und durch welche Vorkehrung zu erwartende Immissionen verhütet oder verringert werden und welcher Art und Intensität die verringerten Immissionen noch sein werden. Dem ärztlichen Sachverständigen fällt - fußend auf dem Gutachten des gewerbetechnischen Sachverständigen - die Aufgabe zu darzulegen, welche Einwirkungen die zu erwartenden Immissionen nach Art und Dauer auf den menschlichen Organismus entsprechend den Tatbestandsmerkmalen des § 74 Abs 2 GewO auszuüben vermögen. Die Auswirkungen einer zu genehmigenden Betriebsanlage sind nach der Rsp des VwGH unter Zugrundelegung jener Situation zu beurteilen, in der die Immissionen für die Nachbarn am ungünstigsten, dh am belastendsten sind.

 

§ 77 Abs 1 GewO verlangt in diesem Zusammenhang, dass die Erwartung, dass Gefährdungen iSd § 74 Abs 2 Z 1 vermieden und Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen iSd § 74 Abs 2 Z 2 bis 5 auf ein zumutbares Maß beschränkt werden, nach dem Stand der Technik und der sonst in Betracht kommenden Wissenschaften zu beurteilen ist.

 

Diesem Erfordernis wird der angefochtene Bescheid nicht gerecht:

 

Die belangte Behörde stützte die vorliegende Genehmigung im Wesentlichen auf Sachverständigengutachten, welche in einem anderen Verfahren betreffend einen, wenn auch ein identes Projekt betreffenden, Antrag der Rechtsvorgängerin der mitbeteiligten Partei von der Gewerbebehörde eingeholt wurden. Diese Gutachten datieren aus dem Jahr 1999 bzw dem Jahr 2002.

 

Die belangte Behörde hat es jedoch nicht für erforderlich gehalten, im vorliegenden Verfahren ein neuerliches lärmtechnisches Gutachten einschließlich einer Umgebungslärmmessung sowie ein neuerliches medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen.

 

Sachverständigengutachten aus den Jahren 1999 bzw 2002 können aber für die Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit einer Betriebsanlage im Jahre 2011 keine taugliche Grundlage bilden. Denn - auch ohne entsprechendes Vorbringen des Bf - kann schon nach dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Lärmsituation sowie der Stand der Technik bzw der Stand der medizinischen und der sonst in Betracht kommenden Wissenschaften in diesem nicht unbeträchtlichen Zeitraum von 12 bzw 9 Jahren geändert habe.

 

Der zum Beweis des Vorliegens der Genehmigungsvoraussetzungen des § 77 GewO herangezogene Sachverständige kann seiner Beurteilung vom Konsenswerber vorgelegte Messberichte zu Grunde legen, sofern er diese nach eigenverantwortlicher Überprüfung für unbedenklich hält. Dies gilt ebenso für bereits vorliegende Sachverständigengutachten, die das beantragte Projekt betreffen.

 

Daher wäre es durchaus (auch iSd in § 39 Abs 2 AVG angesprochenen Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis) zulässig gewesen, im vorliegenden Verfahren Sachverständigengutachten zum Beweis dafür einzuholen, inwieweit aus sachverständiger Sicht die bereits das vorliegende Projekt betreffenden eingeholten Gutachten aufrechterhalten werden können.

 

Dagegen war es der belangten Behörde verwehrt, diese Frage und die dahinter stehende Frage, ob sich aus sachverständiger Sicht zwischenzeitig der Stand der Technik und der in Betracht kommenden Wissenschaften iSd § 77 Abs 1 GewO geändert habe, aus Eigenem zu beurteilen.