16.11.2011 Sozialrecht

VwGH: Übernahme der Selbstkosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung gem § 4 Abs 5 VOG

Hat die Behörde die Handlung iSd § 1 Abs 1 VOG als wesentliche Bedingung der beim Beschädigten bestehenden Gesundheitsschädigung (und diese als adäquate Folge der Handlung) anerkannt, kommt es in der Frage des Ausmaßes der Übernahme der Psychotherapiekosten nicht mehr darauf an, ob beim psychischen Leiden des Verbrechensopfers noch andere Umstände als die strafbare Handlung im Spiel sind


Schlagworte: Verbrechensopferrecht, Kreis der Anspruchsberechtigten, Gesundheitsschädigung, Übernahme der Selbstkosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung, Ausmaß der Übernahme der Kosten, andere Umstände, Kausalität, Wahrscheinlichkeit
Gesetze:

§ 1 VOG, § 4 VOG

GZ 2008/11/0100, 30.09.2011

 

Die im Jahre 1967 geborene Bf wurde in den Jahren 1979 und 1980 Opfer von im Urteil des Jugendgerichtshofes Wien vom 14. Oktober 1981 näher genannten Strafhandlungen (schwerer sexueller Missbrauch, Nötigung sowie schwere Erpressung), für welche die (in den Jahren 1964 und 1965 geborenen) Täter mit dem genannten Strafurteil schuldig gesprochen und mit Freiheitsstrafen bestraft wurden.

 

Mit Schriftsatz vom 22. Juli 2005 stellte die Bf den Antrag auf Übernahme der Kosten für die psychotherapeutische Krankenbehandlung nach den Bestimmungen des VOG, verwies auf die gegen sie begangenen Straftaten und darauf, dass die Täter verurteilt worden seien und dass sie am 20. Juli 2005 eine Psychotherapie bei der Psychotherapeutin Mag J begonnen habe, wobei für die Therapiestunde EUR 85,-- zu bezahlen sei.

 

Dass der Bf auf Grund der hier in Rede stehenden, als kausal anzusehenden Straftaten iSd § 1 Abs 1 Z 1 ein Anspruch nach § 4 Abs 5 VOG zusteht, ist nicht mehr strittig. Strittig ist jedoch das Ausmaß dieses Anspruches.

 

Die Bf macht im Wesentlichen geltend, die Beurteilung der belangten Behörde sei weder richtig noch nachvollziehbar, weil auch für den Zeitraum nach dem 16. Februar 2006 "das Kriterium der Wahrscheinlichkeit iSd VOG" erfüllt sei. Die Sachverständigengutachten Dris S und Dris F würden diagnostizieren, dass bei der Bf eine ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung, eine nicht näher bezeichnete psychosexuelle Entwicklungsstörung und eine rezidivierende depressive Störung mit symptomatischem Syndrom bestehe und es sei festgehalten, dass durch die Nötigung und Erpressung eine schwere Angstsymptomatik sowie durch Missbrauch die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung ausgelöst werden könne. Daraus ergebe sich die als Anspruchsgrundlage erforderliche Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhanges zwischen Tathandlung und Gesundheitsschädigung auch für den Zeitraum nach dem 16. Februar 2006. Außerdem liege jedenfalls alternative Kausalität vor, wobei nicht feststellbar sei, in welchem Ausmaß die Ereignisse die Erkrankung an Morbus Crohn herbeigeführt hätten.

 

Der Bf dürfe nicht das Risiko der Unaufklärbarkeit der Ursache auferlegt werden. Daher sei auch die Psychotherapie, soweit sie zur Beherrschung des Morbus Crohn erforderlich sei, als Grundlage des Anspruchs der Bf nach dem 16. Feber 2006 heranzuziehen. Die von der belangten Behörde eingeholten Gutachten seien unzureichend, es sei nicht ersichtlich, dass die Abteilungsleiterin der belangten Behörde Dr W eine Ärztin sei, sodass sie nicht die Kausalität zwischen dem erlittenen Trauma und dem Entstehen des Morbus Crohn beurteilen dürfe. Aus den von der Bf vorgelegten ärztlichen Bestätigungen bzw Stellungnahmen Dris W und Dris B folge, dass die von der Bf erlittene Missbrauchserfahrung im Alter von 12 Jahren das Auftreten der Darmerkrankung bewirkt habe. Die von der Behörde eingeholten Gutachten würden nur ungenügend und nicht nachvollziehbar auf diese Umstände eingehen. Vor allem aber hätten sich die beigezogenen Ärzte nicht hinreichend mit der geforderten Wahrscheinlichkeit des Zusammenhanges zwischen schädigendem Ereignis und eingetretenem Schaden und der erforderlichen Dauer der Therapie auseinandergesetzt.

 

VwGH: Auszugehen ist von § 4 Abs 5 VOG, wonach die Kosten für die vom Träger der Krankenversicherung bewilligte Anzahl der Sitzungen, die der Beschädigte selbst zu tragen hat, zu übernehmen sind, wenn der Träger der Krankenversicherung auf Grund der Satzung dem Beschädigten einen Kostenzuschuss für psychotherapeutische Krankenbehandlung infolge einer Handlung iSd § 1 Abs 1 leg cit erbringt.

 

In den Materialien zu § 4 Abs 5 leg cit heißt es ua wie folgt:

 

"Diese Bestimmung sieht vor, dass allfällige Selbstkosten für psychotherapeutische Behandlungen, die Beschädigte und Hinterbliebene infolge einer mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohten rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung in Anspruch nehmen müssen, zu übernehmen sind. Voraussetzung für die Kostenübernahme ist, dass der zuständige Krankenversicherungsträger für die psychotherapeutischen Behandlungen einen Kostenzuschuss leistet.

 

Die Krankenversicherungsträger leisten Kostenzuschüsse für Psychotherapie aus dem Titel der Krankenbehandlung. Voraussetzung für die Bewilligung eines Kostenzuschusses wegen Inanspruchnahme eines freiberuflichen Psychotherapeuten ist, dass eine seelische Krankheit vorliegt, die eine Krankenbehandlung notwendig macht. Durch die Krankenbehandlung soll die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Die Krankenbehandlung muss ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Es obliegt den Krankenversicherungsträgern, sich vor einer Leistungsgewährung davon zu überzeugen, dass diese Voraussetzungen vorliegen. … Die Feststellung des Krankenversicherungsträgers, dass eine Gesundheitsschädigung mit Krankheitswert vorliegt, ermöglicht es, in Zweifelsfällen die medizinische Prüfung nach dem Verbrechensopfergesetz auf die Frage zu beschränken, ob die psychotherapeutische Behandlung kausal auf die Handlung … zurückzuführen ist. …

 

Die Kostenübernahme ist an die Anzahl der vom Krankenversicherungsträger bewilligten Sitzungen geknüpft. …"

 

Der angefochtene Bescheid beruht auf der Feststellung, dass die verübten Verbrechen bei der Bf eine psychiatrische Beeinträchtigung bewirkt hätten, zu deren Behandlung psychotherapeutische Krankenbehandlungen erforderlich gewesen seien. Damit hat die belangte Behörde - anders können diese Darlegungen nicht gedeutet werden - die Handlung iSd § 1 Abs 1 VOG als wesentliche Bedingung der bei der Bf bestehenden Gesundheitsschädigung (und diese als adäquate Folge der Handlung) anerkannt. Davon ausgehend kommt es in der Frage des Ausmaßes der Übernahme der Psychotherapiekosten nicht mehr darauf an, ob beim psychischen Leiden des Verbrechensopfers noch andere Umstände als die strafbare Handlung im Spiel sind. Im Beschwerdefall fehlen auch Grundlagen im Sachverhalt für die Annahme, es lägen bei der Bf mehrere klar voneinander zu trennende Krankheitsbilder vor, nämlich eines, für das die verbrecherische Handlung wesentliche Bedingung war, und ein anderes, das mit dieser Handlung nicht in Zusammenhang stünde.

 

Es war verfehlt, dass die belangte Behörde annahm, der Anspruch der Bf auf Kostenersatz für Psychotherapie sei auf die Übernahme der Kostenanteile für 52 Therapiestunden beschränkt, weil damit "die direkten psychiatrischen Traumafolgen ausreichend behandelt waren". Vielmehr knüpft das Gesetz in einem Fall, in dem die verbrecherische Handlung iSd § 1 Abs 1 VOG als wesentliche Bedingung eines durch die Handlung adäquat verursachten, der Psychotherapie bedürftigen psychischen Leidens erkannt wird, allein an die "vom Träger der Krankenversicherung bewilligte Anzahl der Sitzungen" (§ 4 Abs 5 VOG) an. Darüber hat die belangte Behörde (abgesehen von dem Hinweis, dass der Krankenversicherungsträger "für die angeführten Therapieeinheiten … jeweils einen satzungsmäßigen Kostenzuschuss erbracht" habe) jedoch keine Feststellungen getroffen.

 

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die belangte Behörde bei Vermeidung dieses - in Verkennung der Rechtslage unterlaufenen - Verfahrensfehlers zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, zumal im Verwaltungsverfahren behauptet wurde, dass der Träger der Krankenversicherung die satzungsgemäßen Kosten für Psychotherapie im Ausmaß von 200 Sitzungen übernommen habe.