04.01.2012 Sozialrecht

VwGH: § 1 VOG – Übernahme der Kosten der Psychotherapie für unbeteiligte Zeugin eines Verbrechens durch den Bund?

Gänzlich unbeteiligte Zeugen haben keinen Anspruch auf Hilfeleistungen iSd § 2 VOG


Schlagworte: Verbrechensopferrecht, Kreis der Anspruchsberechtigten, Hilfeleistungen, unbeteiligter Zeuge
Gesetze:

§ 1 VOG, § 2 VOG

GZ 2008/11/0168, 29.03.2011

 

Ein Mann warf nach einem Streit mit seiner Ehefrau wegen der von ihr angestrebten Trennung die gemeinsame 21 Monate alte Tochter aus dem Fenster des Kinderzimmers der im zweiten Stock befindlichen Wohnung. Das Kind schlug nach 8,7 Meter Fallhöhe auf dem Asphalt auf und erlitt schwerste Kopfverletzungen, an denen es in weiterer Folge verstarb.

 

Eine Zeugin, die den Aufprall des Kindes auf der Straße aus unmittelbarer Nähe mit ansehen musste, beantragte beim Bundessozialamt die Übernahme der Kosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung, weil sie eine psychische Gesundheitsschädigung erlitten hatte.

 

VwGH: Nach § 1 Abs 1 Z 2 VOG besteht für Personen, die als Unbeteiligte iZm einer rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung, die mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedroht ist, ein Anspruch auf Hilfeleistung, wenn die Unbeteiligte eine Gesundheitsschädigung erleidet.

 

Diesen Tatbestand hat der Gesetzgeber in der Absicht eingeführt, über den Kreis der Verbrechensopfer im eigentlichen Sinn, die einen Anspruch nach Z 1 dieser Gesetzesbestimmung hätten, hinaus jenen Personen einen Entschädigungsanspruch einzuräumen, deren Gesundheitsschädigung sich nicht als Folge der kriminellen Tat selbst darstellt, sondern auf ein mit der Tathandlung lediglich in einem bestimmten Zusammenhang stehendes Ereignis zurückzuführen ist. Gemeint sind va Unbeteiligte, die bei der Verfolgung des Täters, etwa aufgrund des (gesetzmäßigen) Waffengebrauchs durch Sicherheitsorgane, zu Schaden kommen.

 

Im Beschwerdefall lagen diese Anspruchsvoraussetzungen nicht vor.

 

Nach § 1 Abs 1 Z 1 VOG besteht ein Anspruch auf Hilfe für Personen, von denen mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie durch eine mit einer mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben. Dabei muss allerdings diese Gesundheitsstörung eine vom Tätervorsatz umfasste Folge seiner Untat sein. Bei der Zeugin, bei der weder eine persönliche Verbundenheit mit den am Tatgeschehen beteiligten Personen noch eine unmittelbare Involvierung in das Tatgeschehen vorlag, ist die Anspruchsvoraussetzung einer "durch" die Vorsatztat erlittenen Gesundheitsschädigung nicht verwirklicht, weil nicht mit Grund angenommen werden kann, der Vorsatz des Täters sei (nicht nur auf die Tötung oder Verletzung des Kindes, sondern) auch auf den Eintritt einer psychischen Störung mit Krankheitswert infolge Wahrnehmung von Teilen des Tatgeschehens bzw seiner Folgen durch eine unbeteiligte Dritte gerichtet gewesen.

 

Das Gesetz bietet somit keine Handhabe, die geforderte staatliche Opferfürsorge auch der unbeteiligten Zeugin zu gewähren.