29.11.2002 EU

EuGH: Entscheidungen der Kommission, mit denen die Rücknahme der Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln zur Behandlung von Fettleibigkeit angeordnet wurde, sind nichtig


Mit Urteil vom 26. November 2002 (verbundene Rechtssachen T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 sowie T-141/00 - Artegodan ua./Kommission) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Entscheidungen der Kommission, mit welchen die Rücknahme der Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln zur Behandlung von Fettleibigkeit angeordnet wurde, nichtig sind. Die Gemeinschaft darf nicht über die ihr zugewiesenen Befugnisse hinaus tätig werden.

Die Voraussetzungen für die Rücknahme einer Genehmigung sind im Einklang mit dem allgemeinen Grundsatz des Schutzes der öffentlichen Gesundheit auszulegen. Die bloße Entwicklung eines Konsenses in Bezug auf die Wirksamkeit von Arzneimitteln bei der Behandlung von Fettleibigkeit, der sich auf keine neuen Daten stützt, rechtfertigt die Rücknahme der Genehmigung für das Inverkehrbringen demnach nicht.

Zum Hintergrund:Die Pharmaunternehmen "Artegodan" ua. verfügen in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Österreich, Portugal und Spanien über nationale Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, welche amphetaminartige Anorektika enthalten ("Amfepramon", "Clobenzorex", "Fenproporex", "Norpseudoephedrin" und "Phentermin"). Diese Stoffe beschleunigen das Sättigungsgefühl und werden in bestimmten Mitgliedstaaten seit vielen Jahren im Rahmen der Behandlung von Fettleibigkeit eingesetzt.

Die Genehmigungen für das Inverkehrbringen dieser Arzneimittel waren durch eine Entscheidung der Kommission von 1996 harmonisiert worden, welche nach einem Gutachten des Ausschusses für Arzneispezialitäten der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln ergangen war. In dieser Entscheidung hatte sich die Kommission dem Gutachten des Ausschusses angeschlossen und hatte insbesondere eine Beschränkung der Behandlungsdauer mit diesen Arzneimitteln auf drei Monate vorgeschrieben, weil mit einer längeren Behandlung schwerwiegende Risiken verbunden wären. Sie hatte die Ansicht vertreten, dass die Arzneimittel bei dieser Beschränkung hinreichend wirksam wären und ein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweisen würden.

Am 9. März 2000 hatte die Kommission die Rücknahme der Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Humanarzneimitteln angeordnet, welche die oben genannten Anorektika enthalten. Sie hatte sich auf die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen gestützt, welche der Ausschuss im Jahr 1999 nach einer Neubewertung dieser Stoffe abgegeben hatte - deren Wirksamkeit war nunmehr nach dem neuen wissenschaftlichen Kriterium der Langzeitwirkung von Arzneimitteln zur Behandlung von Fettleibigkeit verneint worden. Daraufhin wurden die Genehmigungen für das Inverkehrbringen der fraglichen Arzneimittel von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ausgesetzt oder zurückgenommen.

Der Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel greift die Bestimmungen der Richtlinien über das dezentralisierte Gemeinschaftsverfahren auf. Er sieht u. a. vor:

- Das Erfordernis einer Genehmigung für die Vermarktung eines Arzneimittels in einem Mitgliedstaat durch die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats; die Genehmigung ist fünf Jahre gültig und kann verlängert werden;

- die Voraussetzungen in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit, unter denen die zuständige Behörde eine Genehmigung erteilen, aussetzen oder zurücknehmen kann;

- ein seit 1. 1. 1998 obligatorisches Verfahren für die gegenseitige Anerkennung der nationalen Genehmigungen, das mit Schiedsverfahren der Gemeinschaft verbunden ist;

- die Einholung eines Gutachtens des Ausschusses insbesondere im Bereich der verbleibenden ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, der sich auf die Genehmigung von Arzneimitteln, die nur in einem Mitgliedstaat vermarktet werden, und auf die Verwaltung der rein nationalen Genehmigungen beschränkt, welche erteilt worden sind, bevor das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung obligatorisch wurde.

Die genannten Pharmaunternehmen beantragten in der Folge beim EuGH die Nichtigerklärung der Entscheidungen der Kommission vom 9. März 2000.

Der Europäische Gerichtshof erklärte die Entscheidungen der Kommission zu Anorektika für nichtig und befasst sich zunächst mit der Zuständigkeit der Kommission in diesem Bereich. Er stellt fest, dass die Konsultation des Ausschusses bei nationalen Genehmigungen freiwilligen Charakter hat.

Der EuGH weiter wörtlich: "Der Grundsatz, dass die Gemeinschaft innerhalb der Grenzen der ihr zugewiesenen Befugnisse tätig wird, bedeutet, dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit für nachfolgende Entscheidungen über die Rücknahme harmonisierter nationaler Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels durch ein nicht bindendes Gutachten des Ausschusses nicht verlieren. Die Kommission ist daher für den Erlass der angefochtenen Entscheidungen nicht zuständig gewesen.

Die Entscheidungen hätten auch dann für nichtig erklärt werden müssen, wenn die Kommission für ihren Erlass zuständig gewesen wäre, da die Voraussetzungen für die Rücknahme einer Genehmigung wegen fehlender Wirksamkeit der betreffenden Stoffe, auf die sich diese Entscheidungen stützten, nicht erfüllt sind. Der allgemeine Grundsatz des Vorrangs des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gebietet nämlich die ausschließliche Berücksichtigung von Erwägungen zum Gesundheitsschutz, die Neubewertung der Nutzen-Risiko-Bilanz eines Arzneimittels, wenn neue Daten Zweifel an seiner Wirksamkeit oder seiner Sicherheit wecken, und bei wissenschaftlicher Ungewissheit die Anwendung der Beweislastregelung gemäß dem Vorsorgegrundsatz."

Weiters führt der Europäische Gerichtshof aus, dass im Rahmen der Verwaltung von Genehmigungen nur Erwägungen zum Gesundheitsschutz berücksichtigt werden dürfen. Der Inhaber einer Genehmigung kann keinen speziellen Schutz seiner Interessen geltend machen, wenn die zuständige Behörde nachweist, dass das Arzneimittel in Anbetracht der Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und neuer Daten, die insbesondere im Rahmen der Pharmakovigilanz gesammelt worden sind, die Kriterien der therapeutischen Wirksamkeit und der Sicherheit, auf denen die Genehmigung beruht, nicht mehr erfüllt.

Wenn die therapeutischen Wirkungen, die eine Genehmigung trotz bestimmter unerwünschter Nebenwirkungen gerechtfertigt haben, nicht mehr vorhanden sind, muss die Genehmigung zurückgenommen werden. Der Vorsorgegrundsatz gebietet, dass die zuständige Behörde eine Genehmigung aussetzt oder zurücknimmt, wenn ernste Zweifel an der Sicherheit oder der Wirksamkeit des Arzneimittels bestehen.

Der EuGH schließlich im Wortlaut: "Der Ausschuss und die Kommission haben ausdrücklich eingeräumt, dass die Gutachten des Ausschusses von 1999 und die Entscheidungen der Kommission von 2000 auf genau den gleichen wie den im Gutachten des Ausschusses von 1996 und in der Entscheidung der Kommission aus diesem Jahr berücksichtigten medizinischen und wissenschaftlichen Daten beruhten. Auch die Beurteilung der akzeptablen Risiken hat sich nicht geändert.

Die bloße Fortentwicklung eines wissenschaftlichen Kriteriums für die Beurteilung der Wirksamkeit eines Arzneimittels, über das unter Medizinern Konsens besteht, rechtfertigt die Rücknahme einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels nur, wenn sie auf neuen Daten beruht."